Salzburg
I. W. Schülein
DIE NOTBREMSE
VON R. H I R S C H B E R G-J U R A
^Niemand außer ihm selbst weiß, weshalb er sich schon seit drei
Stationen bemüht, ihr näher zu kommen. Sie drückt sich gelang-
weilt in die Polster-Ecke und antwortet kaum. Das Gespräch will
nicht fließen. Daß sein eleganter Sport-Typ nicht ausreicht, sie aus
ihrer Blasiertheit zu wecken, hat er eingesehen. Eine spöttische Be-
merkung über das illustrierte Mark-Buch in ihrem Schoß bewirkt
auch nichts. Sie hat schon vorher darüber gegähnt. Nun nimmt er
all seine Psychologie zusammen und versucht mit ein wenig Nerven-
sensation suggestiv zu werden.
Nachdem er fünf Minuten lang wie hypnotisiert empor gestarrt,
wird sie endlich unruhig und erfreut ihn durch die Frage, was da
oben zu sehen sei. Er läßt krankhaft seine Mienen zittern und be-
hauptet, die Notbremse mache ihn nervös.
„Wenn man bedenkt, nur ein Ruck an diesem Griff, und der
ganze Zug muß halten! Ich kann mich kaum mehr beherrschen; so
kribbelt es mir in den Fingerspitzen."
Sogleich beben auch ihre süßmüden Züge, und in dem dänischen
Handschuh-Leder zuckt es. Das tröpfelnde Gespräch kommt ins
Fließen und schlägt sogar Wellen. Aus neckenden Widersprüchen
wirbelt boshaft munterer Streit.
„Wenn Sie durchaus an dem Ding zupfen müssen, so zupfen Sie
doch!"
„Oh, meine Gnädige, das ist grober Unfug und strafbar."
„Männer haben eben nie den Mut ihrer Gefühle. Sie müssen
immer ängstlich rechnen."
„Und die Frauen?"
Noch hitziger spritzen die Worte ein paarmal hin und her. Dann
zucken unter dunkelblauer Seide verächtlich die Achseln, und sie steht
hochaufgerichtet vor ihm. Wie eine noch nicht abgebaute Königin.
Die Finger der dänischen Handschuhe krümmen sich, der schlanke Arm
tut einen Ruck. Und — — der Zug tut auch einen Ruck. Welch
erschreckender Art solch ein plötzlicher Ruck ist, wer da noch nicht da-
bei gewesen ist, der kann das gar nicht wissen.
Ich weiß eö auch nicht.
Dem intellektuellen Urheber des NotbremözugS wäre der kleine
schweinslederne Koffer der Dame beinahe auf die Nase gefallen. Die
Fahrgäste sind aufgeregt und laufen herum. Der Zugführer auch.
Bei ihm ist die Neugier amtlich.
Überall späht er, und überall fragt er, und in diesem Abteil sieht
eS der Fachmann auf den ersten Blick: Hier hat die Notbremse ihre
Unberührtheit verloren. Er zückt daS Notizbuch, leckt den Bleistift
und reckt sich zum Verhör:
„Warum haben Sie.? - — Ihr Name, bitte?"
Ganz blaß ist die Dame geworden. Sie ärgert sich, daß sie ein
bißchen Verlegenheit und ein wenig Zittern nicht ganz verbergen
kann. Vergebens sucht sie nach passenden Worten.
Der Herr aber sagt, er habe die Bremse nur gezogen, weil eö
ihm eben Spaß gemacht habe, und dann verkürzt er dem Beamten
die Freude des Verhörs erheblich, indem er freiwillig allerhand
Personalien, Familienstand, Staatsangehörigkeit und Wohnungö-
losigkeit ganz ungefragt und ausführlich von sich gibt. Auch die be-
trächtliche Geldbuße erlegt er bar und mit Kavaliers-Gleichmut.
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I. W. Schülein
DIE NOTBREMSE
VON R. H I R S C H B E R G-J U R A
^Niemand außer ihm selbst weiß, weshalb er sich schon seit drei
Stationen bemüht, ihr näher zu kommen. Sie drückt sich gelang-
weilt in die Polster-Ecke und antwortet kaum. Das Gespräch will
nicht fließen. Daß sein eleganter Sport-Typ nicht ausreicht, sie aus
ihrer Blasiertheit zu wecken, hat er eingesehen. Eine spöttische Be-
merkung über das illustrierte Mark-Buch in ihrem Schoß bewirkt
auch nichts. Sie hat schon vorher darüber gegähnt. Nun nimmt er
all seine Psychologie zusammen und versucht mit ein wenig Nerven-
sensation suggestiv zu werden.
Nachdem er fünf Minuten lang wie hypnotisiert empor gestarrt,
wird sie endlich unruhig und erfreut ihn durch die Frage, was da
oben zu sehen sei. Er läßt krankhaft seine Mienen zittern und be-
hauptet, die Notbremse mache ihn nervös.
„Wenn man bedenkt, nur ein Ruck an diesem Griff, und der
ganze Zug muß halten! Ich kann mich kaum mehr beherrschen; so
kribbelt es mir in den Fingerspitzen."
Sogleich beben auch ihre süßmüden Züge, und in dem dänischen
Handschuh-Leder zuckt es. Das tröpfelnde Gespräch kommt ins
Fließen und schlägt sogar Wellen. Aus neckenden Widersprüchen
wirbelt boshaft munterer Streit.
„Wenn Sie durchaus an dem Ding zupfen müssen, so zupfen Sie
doch!"
„Oh, meine Gnädige, das ist grober Unfug und strafbar."
„Männer haben eben nie den Mut ihrer Gefühle. Sie müssen
immer ängstlich rechnen."
„Und die Frauen?"
Noch hitziger spritzen die Worte ein paarmal hin und her. Dann
zucken unter dunkelblauer Seide verächtlich die Achseln, und sie steht
hochaufgerichtet vor ihm. Wie eine noch nicht abgebaute Königin.
Die Finger der dänischen Handschuhe krümmen sich, der schlanke Arm
tut einen Ruck. Und — — der Zug tut auch einen Ruck. Welch
erschreckender Art solch ein plötzlicher Ruck ist, wer da noch nicht da-
bei gewesen ist, der kann das gar nicht wissen.
Ich weiß eö auch nicht.
Dem intellektuellen Urheber des NotbremözugS wäre der kleine
schweinslederne Koffer der Dame beinahe auf die Nase gefallen. Die
Fahrgäste sind aufgeregt und laufen herum. Der Zugführer auch.
Bei ihm ist die Neugier amtlich.
Überall späht er, und überall fragt er, und in diesem Abteil sieht
eS der Fachmann auf den ersten Blick: Hier hat die Notbremse ihre
Unberührtheit verloren. Er zückt daS Notizbuch, leckt den Bleistift
und reckt sich zum Verhör:
„Warum haben Sie.? - — Ihr Name, bitte?"
Ganz blaß ist die Dame geworden. Sie ärgert sich, daß sie ein
bißchen Verlegenheit und ein wenig Zittern nicht ganz verbergen
kann. Vergebens sucht sie nach passenden Worten.
Der Herr aber sagt, er habe die Bremse nur gezogen, weil eö
ihm eben Spaß gemacht habe, und dann verkürzt er dem Beamten
die Freude des Verhörs erheblich, indem er freiwillig allerhand
Personalien, Familienstand, Staatsangehörigkeit und Wohnungö-
losigkeit ganz ungefragt und ausführlich von sich gibt. Auch die be-
trächtliche Geldbuße erlegt er bar und mit Kavaliers-Gleichmut.
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