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31. JAHRGANG
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1920 " NR. (>
DAS ALTE SCHWABING
MIT BILDERN AUS „CAFE GRÖSSENWAHN, CARNEVAL 1 9 0 2" VON E. STERN
„Und manche lieb- Schallen steigen auf." (Goethe) Schnitzlers Reigen auf der Bühne zu zeigen. Freilich ließ
Beim Klang dieses Namens löst sich aus der Dämmerung ver- daraufhin Orterer im Abgeordnetenhaus eine Rede vom Stapel,
wehter Jugendtage ein ganzes Volk von Gestalten. Von jungen, in der er behauptete, es feien keine Schau spiele mehr, sondern
übermütigen Gestalten mit Mädeln im Arm und dem Lächeln der „S a u spiele", und der „Akademisch-dramatische" wurde vom Brett
Sorglosigkeit auf den Lippen, gestrichen, lebte aber sofort wieder auf
von wilden Gesellen, Kämp- als „Neuer Verein" unter der Führung
fern des Lebens, die tapfer von Max Halbe,
um sich schlugen, und von Im Cafe Größenwahn war Hochbe-
seltsam Gezeichneten, die das trieb und allabendlich Versammlung
Dasein nur kurz und hell werdender Berühmtheiten mit genialem
gegrüßt haben, um bald Haarschopf. Auch daö Park-Hotel hatte
wieder von dem großen seinen Schwabinger Stammtisch, der
Dunkel verschlungen zu wer- aber schon etwas „gehoben" war. Die
tit w; \w den, von leidvollen Geftal- beiden Erkers saßen dort, der liebe, früh
tcn, die sich müden Fußes verstorbene Felix von Rath, der Lic-
FMuen amu* dahinschleppten mit vor der entzückend musikalisch illustrierte,
.-' Sehnsucht brennenden Au- der Einsiedler Nesf, der um sechs Uhr
IIIII ~~0 gen. Wenige sind geblieben, abends aufstand, um zwölf im Cafe
m deren Namen jetzt Ewig- Luitpold zu Mittag aß, unentwegt Max
kcitsklang hat, die große Stirner las und so nebenbei eine
. 'Ji Schar der anderen, die mit wundervolle Messe komponiert hat, das
HMM fliegenden Kravatten und einzige musikalische Werk seiner kurze»
langen Haaren in Ateliers Lebenslaufbahn. Auch der Maler Salz-
und Dichterkammcrn das mann war Stammgast. Ich höre ihn
Leben erobern wollten, ist in noch, wie er mit seinem russischen Accent Die D e l» a r d
alle Winde zersprengt, vom die Münchener Kellnerinnen beschrieb:
Leben vergessen. Damals „Merrkwürdig sind diese Mädchen, lädt man sie zu einem GlaS Bier
Lautenfack jedoch waren sie jung und ein, sagen sie: „Danke, ich bin so frei," und nimmt man sie abends
ganz München mit ihnen. mit nachhaus, sagen sie ebenfalls, bevor sie ins Bett hupfen: Danke,
Eine Zeit wird lebendig, da das Wort Schwabing: Jugend ich bin so frei!"
hieß und Schwung und Begeisterung und Revolution Halbe war schon „angelangt" hielt es aber tapfer mit den Jungen
gegen verstaubte Mal-Weisheiten und Schrecken des Spieß- und Jüngsten. Thomas Mann las im rauchgeschwärzten Biersaale aus
bürgertums weiter Umkreise. Eine Zeit voller Licht und Luft, seinen Werken, selbst elegant im schwarzen Rock und gestreiften Hosen.
Es war die Zeit um 1903, die Zeit Alfred Kubin brachte in feinem kleine»
der 11 Scharfrichter, die Zeit des mit Zimmer erste verrückt-erotische Träume zu
unbewegtem Gesicht seine herausfordernde» - Papier —: es war die beste, die wildeste Zeit
Lieder singenden Wedekind, die Zeit Ludwig Münchens.
Scharfs, Lautensacks, Keyferlinks, der Del- vsllitgl Es war auch die Zeit der schönen Frauen
vard mit ihrem Monsieur Henry, der guten, und der großen Künstlerfeste, die Zeit des
dicken Kathi KobuS in der „Dichtelei", wo JjCr n. tollen Karneval.
man noch den Fremdenbctrieb des „Simpli- jSlL fe'vv-.I Bis hinauf in die Hofgesellschaft warf
eissimus" nicht kannte, der Malweiber und damals Schwabing, und zwar daö gute
des Cafe Größenwahn. Es war die Glanz- Schwabing, feine Wellen. Im „Künstler-
zeit der Münchener Boheme, in der etwas haus" vereinigte sich Münchens erste Gefell-
vom Atem des Montmartre zu spüren schaft zu Festen von hohem, künstlerischen
war. Geschmack. Nie wieder, weder in Rom, noch
Lenbach und Stuck waren schon Meister X in Paris, London oder Madrid habe ich so
und standen halb im bürgerlichen Lager. Aber jk viele schöne Frauen und Mädchen auf einmal
die von Georg Hirth gegründete „Jugend" gesehen, wie in den damaligen Münchener
bob die »ach Ausdruck ringenden ^ Salons. Einander ebenbürtig waren dort die
Maler auf ihr kühnes Schild. Der „Simpli- Raffe der Gräfin Schönborn, die kühle
eissimus" schmetterte seine Frechheiten in die Schönheit der Gräfin Szechenyi, das Tempe-
entfetzte Welt der Staatsanwälte. Der | # rament der Gräfin Zichi, das FrühlingS-
„Akadcmisch-dramatische Verein" verschaffte H V lächeln des Fräulein von Kühlmann, die
Wedekinds nach damaligen Begriffen für die M Grazie der Baronesse Würzburg, die Nipp-
Öffentlichkeit unmöglichen Stücken vor ge- w figur des Fräulein von Poißl, die schlanke,
ladenem Publikum Gehör, entfesselte mit dem hohe Erscheinung des Fräulein von Gietl mit
Marquis von Keith im Deutschen Schau- ihrem römischen Profil, und andere mehr,
spielhaus einen Konzertsturm auf Haus- Am Faschingsdienstag ritten die Offiziere
schlüsseln, oder hatte die Kühnheit, Arthur FrankWedekind der Reitschule als Cowboys oder Indianer
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DAS ALTE SCHWABING
MIT BILDERN AUS „CAFE GRÖSSENWAHN, CARNEVAL 1 9 0 2" VON E. STERN
„Und manche lieb- Schallen steigen auf." (Goethe) Schnitzlers Reigen auf der Bühne zu zeigen. Freilich ließ
Beim Klang dieses Namens löst sich aus der Dämmerung ver- daraufhin Orterer im Abgeordnetenhaus eine Rede vom Stapel,
wehter Jugendtage ein ganzes Volk von Gestalten. Von jungen, in der er behauptete, es feien keine Schau spiele mehr, sondern
übermütigen Gestalten mit Mädeln im Arm und dem Lächeln der „S a u spiele", und der „Akademisch-dramatische" wurde vom Brett
Sorglosigkeit auf den Lippen, gestrichen, lebte aber sofort wieder auf
von wilden Gesellen, Kämp- als „Neuer Verein" unter der Führung
fern des Lebens, die tapfer von Max Halbe,
um sich schlugen, und von Im Cafe Größenwahn war Hochbe-
seltsam Gezeichneten, die das trieb und allabendlich Versammlung
Dasein nur kurz und hell werdender Berühmtheiten mit genialem
gegrüßt haben, um bald Haarschopf. Auch daö Park-Hotel hatte
wieder von dem großen seinen Schwabinger Stammtisch, der
Dunkel verschlungen zu wer- aber schon etwas „gehoben" war. Die
tit w; \w den, von leidvollen Geftal- beiden Erkers saßen dort, der liebe, früh
tcn, die sich müden Fußes verstorbene Felix von Rath, der Lic-
FMuen amu* dahinschleppten mit vor der entzückend musikalisch illustrierte,
.-' Sehnsucht brennenden Au- der Einsiedler Nesf, der um sechs Uhr
IIIII ~~0 gen. Wenige sind geblieben, abends aufstand, um zwölf im Cafe
m deren Namen jetzt Ewig- Luitpold zu Mittag aß, unentwegt Max
kcitsklang hat, die große Stirner las und so nebenbei eine
. 'Ji Schar der anderen, die mit wundervolle Messe komponiert hat, das
HMM fliegenden Kravatten und einzige musikalische Werk seiner kurze»
langen Haaren in Ateliers Lebenslaufbahn. Auch der Maler Salz-
und Dichterkammcrn das mann war Stammgast. Ich höre ihn
Leben erobern wollten, ist in noch, wie er mit seinem russischen Accent Die D e l» a r d
alle Winde zersprengt, vom die Münchener Kellnerinnen beschrieb:
Leben vergessen. Damals „Merrkwürdig sind diese Mädchen, lädt man sie zu einem GlaS Bier
Lautenfack jedoch waren sie jung und ein, sagen sie: „Danke, ich bin so frei," und nimmt man sie abends
ganz München mit ihnen. mit nachhaus, sagen sie ebenfalls, bevor sie ins Bett hupfen: Danke,
Eine Zeit wird lebendig, da das Wort Schwabing: Jugend ich bin so frei!"
hieß und Schwung und Begeisterung und Revolution Halbe war schon „angelangt" hielt es aber tapfer mit den Jungen
gegen verstaubte Mal-Weisheiten und Schrecken des Spieß- und Jüngsten. Thomas Mann las im rauchgeschwärzten Biersaale aus
bürgertums weiter Umkreise. Eine Zeit voller Licht und Luft, seinen Werken, selbst elegant im schwarzen Rock und gestreiften Hosen.
Es war die Zeit um 1903, die Zeit Alfred Kubin brachte in feinem kleine»
der 11 Scharfrichter, die Zeit des mit Zimmer erste verrückt-erotische Träume zu
unbewegtem Gesicht seine herausfordernde» - Papier —: es war die beste, die wildeste Zeit
Lieder singenden Wedekind, die Zeit Ludwig Münchens.
Scharfs, Lautensacks, Keyferlinks, der Del- vsllitgl Es war auch die Zeit der schönen Frauen
vard mit ihrem Monsieur Henry, der guten, und der großen Künstlerfeste, die Zeit des
dicken Kathi KobuS in der „Dichtelei", wo JjCr n. tollen Karneval.
man noch den Fremdenbctrieb des „Simpli- jSlL fe'vv-.I Bis hinauf in die Hofgesellschaft warf
eissimus" nicht kannte, der Malweiber und damals Schwabing, und zwar daö gute
des Cafe Größenwahn. Es war die Glanz- Schwabing, feine Wellen. Im „Künstler-
zeit der Münchener Boheme, in der etwas haus" vereinigte sich Münchens erste Gefell-
vom Atem des Montmartre zu spüren schaft zu Festen von hohem, künstlerischen
war. Geschmack. Nie wieder, weder in Rom, noch
Lenbach und Stuck waren schon Meister X in Paris, London oder Madrid habe ich so
und standen halb im bürgerlichen Lager. Aber jk viele schöne Frauen und Mädchen auf einmal
die von Georg Hirth gegründete „Jugend" gesehen, wie in den damaligen Münchener
bob die »ach Ausdruck ringenden ^ Salons. Einander ebenbürtig waren dort die
Maler auf ihr kühnes Schild. Der „Simpli- Raffe der Gräfin Schönborn, die kühle
eissimus" schmetterte seine Frechheiten in die Schönheit der Gräfin Szechenyi, das Tempe-
entfetzte Welt der Staatsanwälte. Der | # rament der Gräfin Zichi, das FrühlingS-
„Akadcmisch-dramatische Verein" verschaffte H V lächeln des Fräulein von Kühlmann, die
Wedekinds nach damaligen Begriffen für die M Grazie der Baronesse Würzburg, die Nipp-
Öffentlichkeit unmöglichen Stücken vor ge- w figur des Fräulein von Poißl, die schlanke,
ladenem Publikum Gehör, entfesselte mit dem hohe Erscheinung des Fräulein von Gietl mit
Marquis von Keith im Deutschen Schau- ihrem römischen Profil, und andere mehr,
spielhaus einen Konzertsturm auf Haus- Am Faschingsdienstag ritten die Offiziere
schlüsseln, oder hatte die Kühnheit, Arthur FrankWedekind der Reitschule als Cowboys oder Indianer
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