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MEISTERPERLEN DEUTSCHER LITERATUR

Wir sind in der Lage, folgende noch unbekannte Dokumente aus der Sammlung unseres
Wiener Freundes RobertNeumapn zu veröffentlichen.

I. Eine Novelle in zwei Fassungen

I r r w i sch ch e n s Brautfahrt

II. An den Prinzen von Theben

Von Else Lasker-Schüler

Von N a t a l y von E s ch ft r u t h

Die vornehme, mit allem Komfort der Neuzeit ausgestattete schloß-
artige Villa des Kommerzienrates Rönau im kleinen Städtchen B.
ruht im ersten Morgenlicht. Wer ist schon auf? Wer huscht durch
Zier- und Nutzgarten, hier eine duftende Blume brechend, dort die
so schädlichen Kohlweißlinge vom Gemüse vertreibend? Wer ist eö?

Es ist — der Leser wird es schon erraten haben — Marielies, des
Kommerzienrates einzige Tochter. Da öffnet sich oben ein Fenster
und die schlanke und doch königliche, in ein enganliegendes dunkel-
braunes Samtkleid mit gleichfarbigem Plastron gehüllte Gestalt der
Kommerzienrätin erscheint.

„Marie Louise", ruft ihr ebenmäßiges Gesicht, „du ergehst dich
im Garten?"

„Ja, Mütterchen", antwortete Marielies und flatterte näher,
„denn meine Devise lautet: Morgenstunde hat Gold im Munde!"

„Da hast du wahrlich recht, mein Kind," erwiderte jene. „Auch
dein Vater, der wohlhabende Kommerzienrat, dessen - wie du weißt
- einzige Tochter du bist, steht stets vor den Hühnern auf, um vor
allem in die Kirche und dann an die Arbeit zu eilen. Heute jedoch
erhalten wir Besuch! Kurt von Wustro, der, wie du weißt, dein
Iugendgespiele war, kommt zu uns! Wozu wohl? Auf also! Du
darfst heute dein weißes mit echten Spitzen besetztes Konfirmationö-
kleid anziehen!"

„Oh, Goldmuttchen, wie danke ich dir hiefür," zwitscherte Marie-
lieö, indem sie die mit einem vornehmen Teppich belegte Treppe
emporflog, um der Kommerzienrätin um den Hals zu fallen...

Immer glänzt dein Mondgesicht
In süßerlei Abendfarben.

O,

Du trägst ein Schwert in der
Brust

Und heißest wohl Franz von
Assisi.

In deinem Nabel
Wohnt vielleicht der Brunnen
von Hebron.

Sternennachtö bade ich in seinem
Geplätscher
Auf und ab.

Einmal werde ich deine Ohren
rauben.

Und über das spiegelnde Wasser Eise Lasker-Schüler
schnellen

Wie glatte Kiesel,

Wenn türmendem Kardinal der geborstene Wehruf des Fisches geistert.

O du,

Ich möchte an deinem Daumen saugen
All deine Süßigkeit.

III. Der Übergang des Morgenlandes

Marlies

Von Oswahd Spengler

Von Carl Sternheim

Marlies war wohlhabenden Kommerzienrats einzige Tochter, durch
erliche Berufsorge und Frömmelei frühzeitig auf Gemeinschaft mit
der Mutter verwiesen. Kindlichem Spiel mit benachbartem Iugend-
gefährten ward bald Trennung, da Ratschluß des Vormundes kriege-
rischer Laufbahn gewidmet ihn auf Offizierschule abrief. Indes

fturmvollen Iünglinggeift durch
Ballistik, Körperstählung und
Strategie mühsam Zügelung wider-
fuhr, unterdrückte aufblühend Mar-
ktes Traumhaftes in ländlicher
Arbeit.

Erst da emsigem Kriegfleiß
Krönung ward durch Leutnantbe-
förderung, nahm klopfenden Her-
zens er Heimaturlaub. Mütterlicher
Ankündigung bevorstehender Leut-
nantankunft zollte Jubel und ab-
brach Konfirmationkleids sorgfäl-
tige Aufbewahrtheit Marlies zu
Empfangzwecks.

So angebahnter Ehe ward
zwölffacher Kindersegen, bis nach
dreiundfünfzig Jahren Gemeinschaft sämtliche sie an akuter Sprach-
verkürzung zugrundegingen.

In diesem Buche ist zum erstenmal der Versuch gemacht, Ge-
schichte vorauszubeftimmen. Das Mittel, lebendige Formen zu ver-
stehen, ist die Analogie. Der französische Konvent sprach von
Karthago wenn er England meinte, und die Jakobiner nannten sich
Römer, wobei sie übersahen, daß ein Vergleich zwischen Kyarares
und Heinrich I. ebenso plausibel ist, wie einer zwischen Anaximeneö
von Milet und dem Schreiber dieser Zeilen. Das wird noch besser
verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Schlacht bei
Issus, also das Gegenüberstehen zweier Schlachtreihen an den Fluß-
ufern mit abwechselnder Eröffnung der Feindseligkeiten, sein Korre-
lat hat im Gesellschaftstanz unserer Väter, in der Quadrille,
während das Keilschriftzeichen A A, das soviel wie „a" oder
„aufwärts" oder auch „Held" bedeutet, sich gleicherweise wieder
findet im semitischen „pleite", d. i. Friedenswirtschaft, im Grund-
riß der Peterskirche zu Rom und in der Form des Schnurrbarts
Kaiser Wilhelm II.

Und nun denke man an das Symbol 1/ — l und stelle sich vor,
daß Skopas und Praxiteles die Upanishaden nicht gekannt hätten!
Das wird einleuchten.

Ist dem aber so, so ist auch bewiesen, daß die Firma M. E.
Meyer, die sich bekanntlich vom Meyer Helmbrecht herleitet, im
Grunde keine an ^ontrapixnktliche Funktion in der infinitesimalen
Konsonanz des ^unpH hat als jene Maja, deren Schleier

charakteriftischerwe. «o als ein kosmetisches Requisit anzusehen
ist wie die Fabrika. genannten Parfümerie.

Carl Sternheim

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Register
Robert Neumann: Meisterperlen deutscher Literatur
Leo Ledvinka: Karikaturen
 
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