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IV. Oponophlia

Von Hanns Heinz Ewers

Ev. Joh. XXXVIII Vers 09
Insel Pahnagaladomandi,
im April 1920

Mein Führer blieb auf
der Höhe des verschneiten
Passes stehen und äugte
scharf durch die Nachtbläue
inS gegenüberliegende Tal
hinab. Dann sagte er in
schlechtem Englisch der kana-
dischen Indianer: „Hier,

Herr, das Tal der Nacht.
Ich warne dich nochmals."

Ich schnallte statt jeder
Antwort die Skier an. „Du

Ha nns Heinz Ewers

,Fahren wir

bist bezahlt, Kochuapeto,"
sagte ich dann, „aber wenn
du zu feig bist — "

Mit zusammengebissenen

Da straffte er sich
Zähnen.

Wir glitten sausend durch den mondblau stäubenden Schnee.
Jagten über die Lawinenhalde. Erreichten den weißen schweigenden
Talgrund. Schon im letzten Viertel der Abfahrt war mir ausge-
fallen, daß der Schnee unter mir nicht mehr knirschte. Das Tal
war erfüllt von einer weichen breiigen Masse. Es war warm. Ich
wunderte mich, keine Pfützen zu sehen.

Da kroch mir das Weiße langsam und stetig die Beine empor. Als
ich näher hinblickte bemerkte ich, daß von Schnee längst keine Spur
mehr war. Ich stand auf Maden.

Weiße Lcichenmaden lagen in einer meterdicken weich breiigen
Schichte über dem Boden und krochen zu hunderttausenden an mir
hoch. Als ich mich nach meinem Führer umwandte, bemerkte ich, daß
der Madengürtel ihm schon bis in Brusthöhe reichte. Die Augen
quollen ihm aus den Höhlen. Er röchelte.

Da galt es keine Zeit zu verlieren. Man weiß, daß oponophlia
malplex, die Totenmade, Aas dem lebenden Fleische vorzieht und
nur in größtem Hunger atmende Wesen angreift. Ich band also
meinem Führer die Hände auf den Rücken, zog mein Messer hervor,
wetzte eö an dem Taschenwetzstein, den ich für solche Fälle stets bei
mir führe, und schnitt ihm ein Ohr ab. Ich warf es hinter mich in
den Brei. Und während die Flut der fressenden Raupen darüber
zusammenschlug, schob ich mich zwei Schritte durch den Tiersumpf
gegen den schwarzen Wald der vom Talende herüberschaute. Kochua-
peto schleppte ich hinter mir her.

Dann kehrten die Raupen zurück. Ich opferte Kochuapetos zweites
Ohr und seine Nase. DaS brachte mich zehn Schritte weiter. Ehe
ich ihm die Zunge abschnitt, bat er mich um den Gnadenstoß. Aber
ich durfte ihm nicht willfahren. Er mußte langsam geopfert werden.

Als ich nach etwa einer Stunde den Waldrand erreichte, hörte
die Decke weißer qualliger Tiere plötzlich auf. Der Kanadier stand
noch ohne Ohren, Nase, Zunge, Augen und Arme auf einem Bein
— denn das andere hatte ich den Tieren geopfert — etwa zwanzig
Schritte hinter mir im weißen Gewimmel. Plötzlich riß er den
blutigen Rachen auf. Ein breiter Strom zuckender halbzerkauter
Maden brach daraus hervor. Da lachte er. Lachte, daß es durch
Mark und Bein ging.

Dann ward er weiß im Gesicht und wand sich wie eine Made.
Ich sah noch, wie die Flut der Tiere sich über ihm schloß. Unter der
wimmelnden eklig bewegten Decke aber hörte ich noch einen Augen-
blick lang sein Gelächter.

Dann wurde mir endlich übel.

V. Der Sturz

Von Thomas Mann

Der ergraute Mentor ungezählter Befrager, der Unermüdliche,
dem es geglückt war, in zäher Bewußtheit die wenig wirtliche Land-
schaft sich gefügig zu machen, der erfahrene Zuerkenner nnd väterlich
gerechte Verteiler vorhandener Gelegenheit zu Raft und Erquickung,
der Erzeuger endlich (und damit sind die Werte seiner Reifezeit kurz
bezeichnet) jener aus Sahne bereiteten Alpenspeise, die unter dem
Namen Käse Weltruf gewonnen hat: Peter Haslacher also, der
Schutzhauswirt, rief der auf glatt gehobelten Schienen edel ge-
wählten Holzes über die Schneefläche eilenden Nähergleitenden eben
noch ein warnendes Wort zu, als das Unheil auch schon seinen Lauf
nahm. Erzeugt aus einer sanften Blendung des Auges in Verfolg
der ungeahnt beschwingten Bewegung, erstanden aus einer leichten
Berückung des Hirn, die das glückhafte Bewußtsein schwereloser Be-
freitheit auf nervlichen Bahnen zum rascher durchblutenden Herzen
hinabtrug, aufgestiegen aus einer leichten Ermattung, in jener
Gegend des Knies, die ein nordischer Betrachter und durch unge-
kannt tiefe Vertrautheit gewichtiger Zeuge als die schönste des weib-
lichen Körpers zu bezeichnen sich nicht entbrechen zu sollen vermeint,
hatte die Unsicherheit von den Schenkeln der Fahrtbeflissenen unver-
sehens Besitz ergriffen, war höher kletternd in ungebührlich jäher
Verbreitung über den unteren Leib bis in die Gegend des Zwerch-
fells gelangt, und hatte den Schwerpunkt weit hinter die Linie lot-
rechten Standes zurück, ja die Wankende selbst bis zur schlechtweg
unmittelbarer Berührung mit dem krystallisch weißen Elemente
niedergedrängt: sie saß im Schnee.

VI. Aus „Radschendralalamita"

Von Rabindranath Tagore

Ich setze mich an meinen Tisch und schreibe dir einen Brief. Weil
heute die Sonne scheint, will ich dir einen Brief schreiben, Ge-
liebter. Du kannst ihn auch singen, wenn du willst.

Draußen wiegt sich im Winde der — Pujabaum; es kann aber
auch eine Lotosblume sein oder ein Reisfeld.

Die Hauptsache ist, daß ich zu singen beginne, wenn ein Ioghi
vorübergeht oder ein Königsohn.

Wirft mir der dann seine Blicke zu, daß sie wie Edelsteine
klirrend über die Kiesel springen bis an mein Herz, dann ,'chlie^
ich meine Augen und denke an dich.

Und wenn der Abend sinkt, dann wird es bald Nacht.

Geliebter, laß uns im Dunkeln schmusen, da es zu hell ist.

VII. Aus dem Sekundenhefk

Von Rainer Maria Rilke

6.

Die Gäste

Gäste sind >vie die gebrestlichen
Reste im kahlen Pokal,

Wenn auf dem ferneren festlichen
Himmel die weiten westlichen
Wolken wandern zu Tal.

Über dem Harm ihrer Hände
Wird dir ein Prächtiges fern.
Kein ersterbender Stern:

Er ist der letzte Trächtige,
Hingeneigt in das Nächtige
Über die Rechte des Herrn.

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Leo Ledvinka: Karikaturen
 
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