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Da klopfte es an das Küchenfenster. Er schaute aus. Geisterhaft
erschien da das spitzbärtige Gesicht des Archivassessors. Er sah,
wie sich die Lippen bewegten, die starken Zähne blitzten, dann
hörte er die Worte:

„Bist du noch nach einem Schnaps gegangen, Frühheimkehrer?"

Da riß Ignatius das Fenster auf und schrie:

„Das Delirium habt ihr mir an den Hals gesoffen! Sieh mich
an! Ich sehe meine Hose blau und sie ist doch gestreift!"

Der Archivassessor schob seine lange Nase und sein spitzbärtiges
Kinn herein. Er kniff die Augen zusammen und betrachtete auf-
merksam das Phänomen einer Offiziershose. Er war sehr klug,
der Archivassessor, darum riet er dem guten Ignatius:

„Geh ins Bett! Es ist nicht so schlimm mit dem Delirium! Es
wird sich sicher geben!"

Ignatius folgte dem Rat und nachdem er ausgeschlafen hatte,
sah er seine Hose wieder, wie sie tags zuvor gewesen war.

Aber was der böse Archivassessor Dr. Klingler aus der Augen-
täuschung des Magistratssekretärs am Stammtisch gemacht hat,
wollen wir den Ohren unserer züchtigen Leser und Leserinnen
nicht vermelden.

NÄCHTLICHE AUTOMOBILFAHRT

Laß sinken hin in blinde Nacht das Land!

Im wilden Flugwind flattert dein Gewand;

Und Berg, Bach, Brücke, Wiesengrund und Wald
Tritt hinter sich und hat nicht mehr Gestalt.

Nun ist nur Fahrt: entschwebend rechts und links
Die Schatten blaß vergleitenden Geblinks.

Ein Dorf zuckt näher, leuchtet auf und starrt
Erschrocken in den Lichterrausch der Fahrt;

Und wieder durch Alleen, Astgewirr
Taumelt der Vollmond, losgelöst und irr.

Heul auf, Sirene! Fesselloser lacht,

Rauschtolle Räder, durch die scheue Nacht!

Wir bohren uns, ein Dolch von Licht und Erz,

Der blassen Ferne brausend in das Herz.

Robert Neumann.

MÜDESTES FROSCH

VON EGON H. STRASSBURGER

Modeste, meine kleine Freundin, hält sich seit
-einigen Wochen einen grasgrünen Laubfrosch, den
sie hegt und pflegt wie ein liebreizendes Kind.

Modeste kaufte sich eine Kristallwohnung_ für
den grasgrünen Frosch, und ich gab ihr für dieses
Kristallglas achtzig Mark. Der Frosch lebte also
wie ein König in seinem Kristallschloß.

Modeste fängt seit acht Tagen unermüdlich
Fliegen und Brummer, lauter wohlgebaute, fette
Tiere. Gestern raubte sie sechsunddreißig Fliegen
die Freiheit, und durch das Drahtgeflecht oben,
das als Deckel dient, wurden die Fliegen in ihr
Lerderben geschickt. Als die sechsunddreißig Fliegen
gefangen im Froschglas umherschwirrten, lachte
Modeste und sprach:

„Liebe kleine Fliegen, ihr seid bestimmt, meinem
Frosch das Leben amüsant zu machen."

Dann summte ihr Zünglein Sssssss-,

und mit der Hand fuhr sie noch einmal zärtlich
und liebevoll über den Deckel, als wollte sie sagen:
„Nun, mein lieber Frosch, gehab dich wohl und
guten Appetit."

Heute ist Sonntag. Ich betrachte die Fliegen in
der Gefangenschaft und lege mein Ohr an den
Deckel. Es summt und brummt wie in der Hölle.
So ungefähr das Herz Modestes: immer in Be-
wegung, immer temperamentvoll, immer lustig
und vergnügt.

Ich schließe die Augen, währenddem die Ohren
gespannt die Töne vernehmen: Sssssss —

Plötzlich fühle ich mich draußen im Wiesengrund,
höre die Grillen zirpen, sehe, wie die Käfer in
den Blütendolden des Klees schaukeln, verliebte
Tiere umschwirren sich, und am Waldesrand sitzen
zwei Verliebte: Wandervögel mit Gitarre und
Sommerliedern.

Die Wandervögel legen die Gitarre fort, und
ich höre, wie sie zu ihm sagt:

„Liebster, bist du mir gut?"

Statt aller Antwort biegt er ihren Kopf zur
Erde und küßt sie ohne Ende. Sssssssss —

Da höre ich den Frosch aus dem Glase quaken,
und plötzlich bin ich wieder in die Wirklichkeit
versetzt. Der Frosch aber schweigt und schon hat
er wieder eine Fliege geschnappt, eins, zwei, drei.
Hochbetrieb im Kristallglas.

Ich schließe wieder die Augen und bin wieder
bei dem jungen Paar:

Er verspricht ihr die Ehe, und sie lächelt glück-
lich. Der Abend sinkt hernieder; die Schatten fallen
tief und tiefer.

Wieder lege ich das Ohr an das Glas und hör'
die ängstlich gewordenen Fliegen. Sssssssss —

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Register
Francisco José de Goya y Lucientes: Zeichnung aus "Los Caprichos"
Egon Hugo Strassburger: Modestes Frosch
Robert Neumann: Nächtliche Automobilfahrt
 
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