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Mutter mit Kind

GLOCKENSTIMMEN

Die tiefe Glocke mit schwerer Zunge
spricht über die Länder den Abendsegen.

Die Helle dagegen,

die jauchzende, junge,

begrüßt den Morgen auf seinen Wegen.

Und also geht ihr Singgesang:

„Die Nacht war tief,
die Nacht war lang,
das Leben schlief.

Jetzt aber ist der Tag erwacht!

Auf, Schläfer, auf, die Sonne lacht,
die ganze Schöpfung klingt und rauscht,
auf, Schläfer, auf, erwacht und lauscht,
denn übervoll von Wundern ist die Erde."

Die tiefe Glocke dann mit ernster Gebärde:

„Das Licht verrann, die Schatten wehn,
die Erde muß zur Ruhe gehn.

Ins Dunkel finkt, was taglang lacht.

Auch dich, o Mensch, erwartet Nacht.

Die Schatten wachsen ringsumher,
die Farbe stirbt in ihrem Meer,
das Leuchten lischt, der Frohsinn schweigt,
der Spielmann Tod nur wacht und geigt..."

Die tiefe Glocke mit ehernen Schlägen
spricht über die Länder den Abendsegen.

Die kleine aber, die jauchzende, schnelle,
begrüßt alle Tage die Morgenhelle
mit Jubelton und -gebärde:

Denn übervoll von Wundern ist die Erde...

Hilda B e r g in a n n.

Willy Preetorius

HEIMFAHRT

VON OTTO AUGUST EHLERS

Die Sonne des hundertsten Tages steigt über die Kimm.

Stainpfend und ächzend im Zuge flachgefüllter Segel stößt die Bark
„Anke Marie" spitz in den eisigen Ostnordost. Ihr schwarzer Bug rollt
schwer gegen den Ansturm der graugrünen Leiber, preßt und zerschneidet,
bohrt sich in schäumende, aufgerissene Schlunde... Mittwinter-Nordsee.

Harte Fahrt, mühsamer Kurs. Des im Süden versunkenen ersten Reise-
tages hundertster Bruder, so geifernd und hechelnd wie jener trächtig
ruhesam.

Die Hände des Jungen am Ruder zwingen das Schiff. Tastende,
drängende Gewalt klopft in dem Steuerholz, hämisches Warten, spielender
Hohn... Hundert Tage gleitender, schleifender Meerfahrt: Das Herz ein
vergessenes Ding; Seele, lang nicht mehr dem schwingenden Vogelflug
nachhängend; Sinne, von der unendlichen Furche des Kielwassers auf-
gesogen, vom Winde zermürbt. Onnens, des jungen Rudermannes, Augen
blicken kalt in das gischende Ungetüm: der Gott der Wellen und des Schiffes
ist die Faust der Männer.

Bäumend drängen wogende Herden zur Hatz. Fliegende Zungen, böse
und mürrisch vom Dunkel der Nacht, speien haßvoll zur Höhe auf. Zuweilen
spaltet sich der Himmel. Dann sticht ein matter Sonnenarm durch das
treibende Wolkengefetz und glitzert so blank im eisüberkrusteten Gestänge,
daß es dem am Ruder betörend ins Herz fällt, des weißen, nackten Zitterns
frostiger Birken zu denken: Armseliges Zweiggewirr am Hange über dem
Holmhof, von wo wintertags das erste Licht aufschwebt, wo es flatternd zu
Neste geht... Heimat.

Rauschend kämmen Sturzseen durch die Wanten. Dann klatschendes
Tropfen, leise gerinnend. Und ächzende Starre in Tau und Holz. Dumpf
schlägt die „Anke Marie" auf breite Wellenleiber, und abermals peitschen
fliegende Wasser über Deck.

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Index
August Ehlers: Heimfahrt
Willy Preetorius: Mutter mit Kind
Hilda Bergmann: Glockenstimmen
 
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