Eis — von Hunderten, die über Brücke und Geländer quollen,
deutlich gesichtet — zog schreckhaft lautlos das verwunschene
Gespann; dampfend der Schimmel; mit aufgerissenen Augen,
strähnenflatternd, den zerschlissenen Schleier hinterher: die Braut;
lustig mit der Peitsche fuchtelnd der betrunkene Bräutigam,
wank und schwank, den verliebten Arm breit um die schmale
Schulter . . . !
Uferlang zwischen den beschneiten Ulmen strömten Tausende
aus allen Gassen mit, das
verrückte Wunder zu er-
spähn, bis eben jener junge
Kerl, der die Extratour
ersonnen, mit verwegenem
Schwung durchs Splitter-
glas schoß, dem Unheim-
lichen sein Opfer zu ent-
reißen. Der aber schlug
ihm mit der Peitsche ins
Gesicht, daß ihm ein Auge
barst und er in blinder
Wut es nicht viel weiter
brachte, als sich in die
Geißelschnur der Peitsche
zu verbeißen. Daran zerrte
ihn der Kutscher unterm
Angstgeschrei der entsetzten
Augenzeugen wie einen
Riesenfisch mit sich an
wilder Angel, unter Brückenbogen her, durch Schlamm und
Schlick, von der Heeren-Gracht zur Nieuwen Vaart, von der
Binnen-Gracht zur Buiten-Gracht, durch Kanal und Polder
unaufhaltsam in die See hinaus.
Da, unterm schauerlichen Nicken des Fuhrmanns, ließ der
Halberstickte los, trieb an die Oberfläche, wo ihn Fischer fingen
in ausgeworfenem Netz. Bis in die tiefe Nacht verfolgte das
Boot im grünen Mondlicht das immer bodenloser tauchende
Gespann, bis es der Ab-
grund schluckte und nur
noch irrelichternd manch-
mal das schadenfrohe
Winken des Alten auf-
glomm, mit dem er ihren
Schleier durch die Fluten
schleppte ...
Ein Leben lang ist
jener junge Kerl von Tag
an übers Meer gefahren,
die Straße zu ergründen,
die der Alte zog; bis er
selbst ein alter Mann
geworden, der mit dem
Kopfe wackelte und vor
lauter Suchen gar vergaß,
wonach er suchte, denn das
Meer ist breit und uner-
gründlich tief.
Aus den hinterlassenerr Papieren des
Honore de Lavagne
Chevaliers
u e b e r die Treue
Chevalier Honorö de Lavagne lebte zur Zeit des Sonnenkönigs
und widmete sich, im Gegensatz zu seinen Standesgenossen, die
eine Beschäftigung mit Philosophie und Wissenschaft für unan-
gebracht hielten, dem Studium.
Allerdings einem kostspieligen, zeitraubenden und aufreibenden
Studium. Er studierte — die Liebe.
Man muß wissen, daß dazumal die Laien auf diesem Gebiete
bedeutend versierter waren, als es heute die Fachleute sind. Und
man wird daraus ersehen und verstehen können, zu welcher Voll-
kommenheit es Honore de Lavagne gebracht haben mußte.
Er hinterließ eine Anzahl Schriften. Nicht so viel, um damit
ein Bändchen vom Umfange der kleinen Reclambücher zu füllen,
aber genug, um die sein ausziselierte Gedankenarbeit dieses
Ritters erkennen zu lassen.
Es ist zum Beispiel sehr interessant, was Honore de Lavagne
an jenem Tag, als er den Galan seiner Gattin, nachdem er ihn
mit höflichen Worten aus deren Schlafzimmer hinausgebeten und
ihn draußen in dem wunderschönen Schloßpark im Duell nieder-
gestochen, geschrieben hatte. Er wird nachdenklich und meint:
„Frauen können nicht treu sein, da Treue ihrem Wesen fremd
ist. Frauen find zu geschmackvoll, um stets den gleichen Geschmack
zu haben. Der wechselt, wie der Mond. Und darum finde ich es
nur natürlich, daß Madame mit ebendemselben süßen Mund, mit
dem sie mir gestern noch Liebenswürdigkeiten sagte, heute einem
Anderen Verheißungen macht. Denn der gleiche Schwung meiner
Rede muß sie ja längst ermüdet haben, und derselbe Blick meiner
Augen sagt ihr nichts Neues mehr.
Ganz anders ist der Mann. Der ist von Natur aus treu. Und
darum verdiente der kleine Vicomte de Bruissant eine Lektion, da
er sich von seiner charmanten Heloise abwandte, um Madame zu
odorieren. Das ist unmännlich.
Der Mann hat von Fugend aus ein Idealbild vor Augen. Das
sucht er. Und wenn er es gefunden hat, dann verliebt er sich
und bleibt ihm lebenslang treu. Ich zum Beispiel hatte stets
ein junges, schlankes Mädchen im Sinn. Dunkelblonde Locken
hatte das Fräulein, und darin spielten helle Sonnenlichter. Unter
weichen, seidigen Wimpern lagen ganz dunkle, nachthimmelblaue
Augen. Die Gestalt war klein und graziös und die Haut hatte
den Samthauch von jungen Rosenblättern an einem Taufommer-
morgen.
Ich suchte so lange, bis ich das Ideal gefunden hatte, und
dem blieb ich bis heute treu und werde es auch bleiben.
Madame Blanche de Montgommery hat diese dunklen, seelen-
haften Augen. Comtesse de Tellier besitzt die sonnengoldenen
Haare. Meine Frau hatte einst die begehrte, samtweiche Rosen-
blütenhaut, Mademoiselle Louison de Beregü ist jenes grazile
Figürchen wie aus Porzellan von Sevres. Schade nur, daß ich
nicht auch den erträumten Mund fand, süß und rot wie eine Beere.
Dazu mußte ich mich doch encanaillisieren. Denn diesen hatte nur
Demoiselle Bibiche, die Zofe meiner Frau. Leider, durch die Ber-
• änderlichkeit der Frauen, bin ich öfter gezwungen, Teile meines
Schönheitsideals, das ich liebe und anbete, zu wechseln. Braiement!
Es fällt mir oft nicht leicht, den richtigen Ersatz zu finden! Aber
als Mann, der seiner Pflicht zur Treue eingedenk ist und stets und
immer noch sein Ideal liebt, gelang es mir bisher noch immer ...
Und dabei wollen Frauen, selbst nie treu, diese unwandelbare
Treue nicht anerkennen und verstehen. Selbst meine sonst so kluge
Frau, Madame de Lavagne, will mich öfter zur Untreue ver-
halten, obwohl sie doch weiß, daß jenes Mosaikstück meines Id
bildes, das sie einst war, schon tänast die junge Duchesse de R>
ist..."
Ungersba
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deutlich gesichtet — zog schreckhaft lautlos das verwunschene
Gespann; dampfend der Schimmel; mit aufgerissenen Augen,
strähnenflatternd, den zerschlissenen Schleier hinterher: die Braut;
lustig mit der Peitsche fuchtelnd der betrunkene Bräutigam,
wank und schwank, den verliebten Arm breit um die schmale
Schulter . . . !
Uferlang zwischen den beschneiten Ulmen strömten Tausende
aus allen Gassen mit, das
verrückte Wunder zu er-
spähn, bis eben jener junge
Kerl, der die Extratour
ersonnen, mit verwegenem
Schwung durchs Splitter-
glas schoß, dem Unheim-
lichen sein Opfer zu ent-
reißen. Der aber schlug
ihm mit der Peitsche ins
Gesicht, daß ihm ein Auge
barst und er in blinder
Wut es nicht viel weiter
brachte, als sich in die
Geißelschnur der Peitsche
zu verbeißen. Daran zerrte
ihn der Kutscher unterm
Angstgeschrei der entsetzten
Augenzeugen wie einen
Riesenfisch mit sich an
wilder Angel, unter Brückenbogen her, durch Schlamm und
Schlick, von der Heeren-Gracht zur Nieuwen Vaart, von der
Binnen-Gracht zur Buiten-Gracht, durch Kanal und Polder
unaufhaltsam in die See hinaus.
Da, unterm schauerlichen Nicken des Fuhrmanns, ließ der
Halberstickte los, trieb an die Oberfläche, wo ihn Fischer fingen
in ausgeworfenem Netz. Bis in die tiefe Nacht verfolgte das
Boot im grünen Mondlicht das immer bodenloser tauchende
Gespann, bis es der Ab-
grund schluckte und nur
noch irrelichternd manch-
mal das schadenfrohe
Winken des Alten auf-
glomm, mit dem er ihren
Schleier durch die Fluten
schleppte ...
Ein Leben lang ist
jener junge Kerl von Tag
an übers Meer gefahren,
die Straße zu ergründen,
die der Alte zog; bis er
selbst ein alter Mann
geworden, der mit dem
Kopfe wackelte und vor
lauter Suchen gar vergaß,
wonach er suchte, denn das
Meer ist breit und uner-
gründlich tief.
Aus den hinterlassenerr Papieren des
Honore de Lavagne
Chevaliers
u e b e r die Treue
Chevalier Honorö de Lavagne lebte zur Zeit des Sonnenkönigs
und widmete sich, im Gegensatz zu seinen Standesgenossen, die
eine Beschäftigung mit Philosophie und Wissenschaft für unan-
gebracht hielten, dem Studium.
Allerdings einem kostspieligen, zeitraubenden und aufreibenden
Studium. Er studierte — die Liebe.
Man muß wissen, daß dazumal die Laien auf diesem Gebiete
bedeutend versierter waren, als es heute die Fachleute sind. Und
man wird daraus ersehen und verstehen können, zu welcher Voll-
kommenheit es Honore de Lavagne gebracht haben mußte.
Er hinterließ eine Anzahl Schriften. Nicht so viel, um damit
ein Bändchen vom Umfange der kleinen Reclambücher zu füllen,
aber genug, um die sein ausziselierte Gedankenarbeit dieses
Ritters erkennen zu lassen.
Es ist zum Beispiel sehr interessant, was Honore de Lavagne
an jenem Tag, als er den Galan seiner Gattin, nachdem er ihn
mit höflichen Worten aus deren Schlafzimmer hinausgebeten und
ihn draußen in dem wunderschönen Schloßpark im Duell nieder-
gestochen, geschrieben hatte. Er wird nachdenklich und meint:
„Frauen können nicht treu sein, da Treue ihrem Wesen fremd
ist. Frauen find zu geschmackvoll, um stets den gleichen Geschmack
zu haben. Der wechselt, wie der Mond. Und darum finde ich es
nur natürlich, daß Madame mit ebendemselben süßen Mund, mit
dem sie mir gestern noch Liebenswürdigkeiten sagte, heute einem
Anderen Verheißungen macht. Denn der gleiche Schwung meiner
Rede muß sie ja längst ermüdet haben, und derselbe Blick meiner
Augen sagt ihr nichts Neues mehr.
Ganz anders ist der Mann. Der ist von Natur aus treu. Und
darum verdiente der kleine Vicomte de Bruissant eine Lektion, da
er sich von seiner charmanten Heloise abwandte, um Madame zu
odorieren. Das ist unmännlich.
Der Mann hat von Fugend aus ein Idealbild vor Augen. Das
sucht er. Und wenn er es gefunden hat, dann verliebt er sich
und bleibt ihm lebenslang treu. Ich zum Beispiel hatte stets
ein junges, schlankes Mädchen im Sinn. Dunkelblonde Locken
hatte das Fräulein, und darin spielten helle Sonnenlichter. Unter
weichen, seidigen Wimpern lagen ganz dunkle, nachthimmelblaue
Augen. Die Gestalt war klein und graziös und die Haut hatte
den Samthauch von jungen Rosenblättern an einem Taufommer-
morgen.
Ich suchte so lange, bis ich das Ideal gefunden hatte, und
dem blieb ich bis heute treu und werde es auch bleiben.
Madame Blanche de Montgommery hat diese dunklen, seelen-
haften Augen. Comtesse de Tellier besitzt die sonnengoldenen
Haare. Meine Frau hatte einst die begehrte, samtweiche Rosen-
blütenhaut, Mademoiselle Louison de Beregü ist jenes grazile
Figürchen wie aus Porzellan von Sevres. Schade nur, daß ich
nicht auch den erträumten Mund fand, süß und rot wie eine Beere.
Dazu mußte ich mich doch encanaillisieren. Denn diesen hatte nur
Demoiselle Bibiche, die Zofe meiner Frau. Leider, durch die Ber-
• änderlichkeit der Frauen, bin ich öfter gezwungen, Teile meines
Schönheitsideals, das ich liebe und anbete, zu wechseln. Braiement!
Es fällt mir oft nicht leicht, den richtigen Ersatz zu finden! Aber
als Mann, der seiner Pflicht zur Treue eingedenk ist und stets und
immer noch sein Ideal liebt, gelang es mir bisher noch immer ...
Und dabei wollen Frauen, selbst nie treu, diese unwandelbare
Treue nicht anerkennen und verstehen. Selbst meine sonst so kluge
Frau, Madame de Lavagne, will mich öfter zur Untreue ver-
halten, obwohl sie doch weiß, daß jenes Mosaikstück meines Id
bildes, das sie einst war, schon tänast die junge Duchesse de R>
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