J U G E
31. JAHRGANG
N D
1926 / NR. 24
DAS WUNDER VON GENIN
EINE LÜBISCHE SAGE VON OTTO ANTHES
Es lebte ein mackeres Weib zu Genin im Lübischen, das
mochte die einsamen Nächte seines Witwentums nicht mehr
ertragen und nahm sich ab und zu einen guten Gesellen zur
Kurzweil in ihre Kammer; damit sie wohl wieder zu ihrer
fröhlichen Laune, aber auch von ihrem guten Ruf kam. Das
machte ihr indes vorerst nur geringe Pein, da sie sich um keinen
Menschen kümmerte und über Tag genug zu tun hatte, ihr
Haus und Gärtlein in gutem Stand zu erhalten, was sie nun-
mehr, da ihre Wehmut gestillt war, mit gedoppeltem Fleiß
und Behagen vollsührte. Und Haus und Gärtlein dankten ihr
die Mühe mit blitzblanker Sauberkeit und fröhlichem Wachstum:
auf ihren Beeten grünten die zartesten Gemüse, die gen Lübeck
aus den Markt gebracht wurden; und ihre Obstbäume gediehen
mit Saft und Kraft der Blüte entgegen.
Indessen sollte sie bald der Bosheit inne werden, die um
sie und ihr Wesen herumging. In einer Nacht, da sie in leichtem
Schlummer lag, wurde sie von einem lauten Rauschen geweckt,
das über das Gärtlein draußen hinwegfuhr, so als ob ein starker
Wind daherkäme; es rührte sich aber kein Lüstlein. Und als
sie am anderen Morgen den Schaden besah, da waren ihre
Beete kahl wie nach einem großen Raupenfraß. Sie war traurig,
gab sich aber alsbald daran, die Erde von neuem zu bestellen,
grub, hackte und pflanzte und dachte: es muß auch einmal
etwas mißraten. In einer andern Nacht aber vernahm sie ein
gewaltiges Summen und Brummen, als ob ein ungeheurer
Bienenschwarm zuwege wäre; und am Morgen waren an den
zwei Kirschbäumen alle Blüten verschwunden, die tags zuvor
herausgekrochen waren. Nun war sie schon bange in ihrem
Herzen um ihren Birnbaum, und als der die Blüten ausgesteckt
hatte, lag sie die ganze Nacht wach, gedenkend, dem bösen Zauber
auf die Spur zu kommen. Als sie am frühen Morgen doch ein
wenig eingenickt war, erhob sich wieder das Summen und
bkercle unter einem llnum
Dorn llr3nclent)urx-?ol8ter
467
31. JAHRGANG
N D
1926 / NR. 24
DAS WUNDER VON GENIN
EINE LÜBISCHE SAGE VON OTTO ANTHES
Es lebte ein mackeres Weib zu Genin im Lübischen, das
mochte die einsamen Nächte seines Witwentums nicht mehr
ertragen und nahm sich ab und zu einen guten Gesellen zur
Kurzweil in ihre Kammer; damit sie wohl wieder zu ihrer
fröhlichen Laune, aber auch von ihrem guten Ruf kam. Das
machte ihr indes vorerst nur geringe Pein, da sie sich um keinen
Menschen kümmerte und über Tag genug zu tun hatte, ihr
Haus und Gärtlein in gutem Stand zu erhalten, was sie nun-
mehr, da ihre Wehmut gestillt war, mit gedoppeltem Fleiß
und Behagen vollsührte. Und Haus und Gärtlein dankten ihr
die Mühe mit blitzblanker Sauberkeit und fröhlichem Wachstum:
auf ihren Beeten grünten die zartesten Gemüse, die gen Lübeck
aus den Markt gebracht wurden; und ihre Obstbäume gediehen
mit Saft und Kraft der Blüte entgegen.
Indessen sollte sie bald der Bosheit inne werden, die um
sie und ihr Wesen herumging. In einer Nacht, da sie in leichtem
Schlummer lag, wurde sie von einem lauten Rauschen geweckt,
das über das Gärtlein draußen hinwegfuhr, so als ob ein starker
Wind daherkäme; es rührte sich aber kein Lüstlein. Und als
sie am anderen Morgen den Schaden besah, da waren ihre
Beete kahl wie nach einem großen Raupenfraß. Sie war traurig,
gab sich aber alsbald daran, die Erde von neuem zu bestellen,
grub, hackte und pflanzte und dachte: es muß auch einmal
etwas mißraten. In einer andern Nacht aber vernahm sie ein
gewaltiges Summen und Brummen, als ob ein ungeheurer
Bienenschwarm zuwege wäre; und am Morgen waren an den
zwei Kirschbäumen alle Blüten verschwunden, die tags zuvor
herausgekrochen waren. Nun war sie schon bange in ihrem
Herzen um ihren Birnbaum, und als der die Blüten ausgesteckt
hatte, lag sie die ganze Nacht wach, gedenkend, dem bösen Zauber
auf die Spur zu kommen. Als sie am frühen Morgen doch ein
wenig eingenickt war, erhob sich wieder das Summen und
bkercle unter einem llnum
Dorn llr3nclent)urx-?ol8ter
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