Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
ERLAUSCHT

VON MAXJUNGNICKEL

Im Morgenlicht gehe ich an einem thüringi-
schen Dorfschulhaus vorüber. Es steht unter
einem riesigen Kastanienbaum, der vielleicht
morgen, oder übermorgen, oder in der nächsten
Woche seine Kronleuchter anstecken wird. Vorerst
freut er sich grün und mächtig auf sein zu-
künftiges Lichterfest. Eine Schar Vögel singt
und zwitschert und melodeit auf ihm. Und die
Schule, die unter ihm steht, wird von diesen
Vogelmelodien wie hochgehoben. — Ja, ja: die
Schule singt schön. Helle Kinderstimmen von
sieben bis acht Jahren. Selige Stimmen, über-
mütige, quellfrische Stimmen. Es ist eine Lust,
darauf zu lauschen. Und noch dazu in der schön-
sten Frühlingsmorgenstunde. Ein frommes Lied
singen die Kinder. Ganz weich und wehmütig
wird man dabei. Vor meiner Seele tanzt und
wimmelt meine Jugend umher. Ach, wie lange
ist das her, daß ich dieses fromme Lied sang:
„Allein Gott in der Höh' sei Ehr'." Jetzt wird es
wohl bald zu Ende sein. — „Nun ist groß Fried
ohn' Unterlaß, all Fehd' hat nun ein Ende." —
Aber was wird denn da dazwischen gesungen?
Eine leuchtende Stimme singt ganz jubelnd in

diesen zuversichtlichen Reim — „Nun ißt Gott-
fried ohn' Unterlaß, Alfred ist schon zu Ende."
Wie ein bunter, lustiger Kaspersprung war das,
in eine Versammlung heiliger Männer hinein. —
Ich muß laut auflachen. Der Kastanienbaum
biegt seine grünen Wellen. Die Dorfuhr summt.
Und die Sonne steht vor der Schulhaustür wie
einer von den goldenen Engeln, die einst vorm
Paradiese standen.

-K

DAS JULI-KIND

Ich ging auf ackerbuntem Pfade,
da lag ein Kind und glänzte hold.

Voll Freude griff ich nach der Gnade:
da barg es sich im Aehrengold.

Doch als in seligem Erstaunen
ich suchend durch die Halme drang,
da hört' ich unter mir ein Raunen
wie einer Mutter Wiegensang.

Willy Seidel.

DIE HEIMARBEITERIN

VON S E F F

Herr Samuel Schönbart hatte sich in seinem
Damenkonfektionsgeschäft von jeher mit reizenden
Verkäuferinnen umgeben und sah auch bei seinen
im Hinterhaus beschäftigten Näherinnen auf ein
Mindestmaß von Lieblichkeit. Da er mittags in
einem vortrefflichen Weinhaus zu essen pflegte
und die alteingesessene Kellnerin ohne Widerstand
tätscheln durfte, blieb sein Bedürfnis nach häus-
lichen Tischfreuden nebst Ehegattin bedauerlich
schwach entwickelt. Wenn er abends im Kreise
lustiger Freunde ausgiebig gezecht hatte, wurde
er auf dem Nachhauseweg manchmal die leichte
Beute weiblicher Raubvögel, die ihn um die Ecke
in die nächste Seitengasse abschleppten. Er
brauchte dann bloß für den Rest der Nacht in
den zweiten Stock seines Vorderhauses zu steigen,
wo er zusammen mit seinem Bruder und Kom-
pagnon Isaak, ebenfalls einem Junggesellen, eine
Ziemlich kahle, nur mäßig abgewetzte Wohnung
innehatte. Weibliche Zufallspassagiere hatte er
nämlich nur in den pressantesten Fällen und nur
nach Mitternacht mit sich genommen. Der Kater
blieb nie aus.

Je mehr sich Herr Samuel den Fünfzigern
näherte, desto besinnlicher wurde er in seiner
Erotik. Er suchte instinktiv nach einer kombi-
nierten Kultform, in der er die freie Göttin
Venus innerhalb vier traulicher Wände verehren
konnte. In diesem löblichen Drange rettete er

Oie Eurtll Erich Grüner <Eavaria«Verlag)

491
Register
Willy Seidel: Das Juli-Kind
Seff: Die Heimarbeiterin
Max Jungnickel: Erlauscht
Erich Gruner: Die Furth
 
Annotationen