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31. JAHRGANG

G E- N D

19 26 / NR. 26

DER ZECHPRELLER

VON A.

Ein Mensch von vierzig Jahren, der, ohne etwas Rechtes gelernt und
ohne Ausdauer zu haben, mancherlei Broterwerb versucht hatte — als
Gelegenheitsarbeiter, als Austräger, als Schneeschaufler, als zaghafter
Dieb in Warenhäusern — war wieder einmal in seinem Leben (zum wie-
vielten gallebitteren Male?) ganz ohne Geld. Ohne einen Pfennig, ohne
drei Pfennige, lim sich auch nur eine Semmel kaufen zu können.

Betteln — er hatte es selbstverständlich auch damit versucht — war
nicht seine Sache. Zum Bettler muß man geboren sein, man muß Talent
zur Mimik und zur Geste haben, man muß Ausdauer besitzen; für all das
aber war er nicht geschaffen und nicht begabt genug.

Er besaß nichts, als was er auf dem Leibe trug: einen fadenscheinigen
Anzug, ein schmutziges Hemd, ein Paar Stiefel, deren Sohlen sich los-
lösten, eine fettige, blaue Seglermütze mit Schild.

Es war im November, — ein Abend, der mit Nässe und Kälte in den
Straßen lag. Der Mann trieb sich herum, in einer dumpfen Unentschlossen-
heit, aus der heraus ihm halbwegs klar wurde, wie satt er es habe, wie
satt schon seit langem.

Umhervagieren; aus den Schlafstellen hinausgeworfen werden; irgend-
wo neuerdings unterkriechend; im Sommer im Freien schlafend; zu un-
geschickt sein, um ein Ding zu drehen, zumal bei seinem schlechten Gehör;
nie zu wissen, wovon man morgen leben könne; immer in lauernder
Stellung, immer in Abwehr; vom Herbst in den Winter ächzen, vom

Winter in den Frühling, und so weiter und so fort,-das war nichts.

das war nichts!

Der Mensch suchte Stellen des Pflasters, die möglichst ohne Pfützen
lagen, aber was half es, die Füße konnten längst nicht mehr nässer werden
als sie waren. Und wurde man fiebernd ins Krankenhaus ausgenommen,
— ach, sie hatten so viel an einem auszusetzen. Man sollte das tun und
jenes lassen, man wurde kommandiert wie überall,.— Arzt und Kranken-
wärter, Unteroffizier und Gefängnisaufseher: es war immer dasselbe, und
es war nichts.

Er hatte einen hageren Körper, ein entfleischtes Gesicht mit ein-
gefallener Oberlippe, weil ihm dort die Zähne fehlten, vorspringende
Backenknochen, über die sich eine lederne Haut runzlich spannte, volles
Haar, das über den dünnwandigen, gelben Ohren in grauen, verklebten
Löckchen lag. Er sah aus, als sei er fünfzig Jahre mindestens.

Als einzigen Wertgegenstand zweifelhafter Güte trug er in der Brust-
tasche einen Revolver. Er mußte manchmal nach ihm fühlen, ob er noch da
sei, weil die Tasche durchgerieben und nicht mehr zuverlässig war. Nun,
und wenn er nicht mehr da wäre, wenn er verloren ginge? Er würde
keinen Reichen über den Haufen schießen. Er war hier — und die, denen
es gut ging, waren wo anders. Dorthin gelangte er nie, und niemals
würde er soviel Haß aufbringen, um ihrer einem an den Hals zu fahren.

Weshalb also trug er das Schießeisen umher, das vor einer Woche
einem Zuhälter frühmorgens in der Bahnhofwirtschaft bei Raufhändeln
aus der zerreißenden Hose gerutscht war, und das er heimlich ausgehoben
hatte? Weil die Trödler der Altstadt so wenig dafür geben wollten, daß
er solch Wertobjekt fahren zu lassen sich
bisher nicht hatte entschließen können.

Aber morgen wird es nötig sein, auch um
die schäbigste Summe. —

„Alles packe ich falsch an. Vorwärts!

Nimm dir, als wäre es so richtig, was du
brauchst, und geh' drauf deiner Wege.

Nimm mit List und schleich dich davon!

Geh' ins warme Wirtshaus — nicht lange
gefackelt, ins nächste! Setz' dich nieder,
nahe beim Ofen, bestell', iß und trink —
und geh' deiner Wege!

Andere haben's geschafft, — so schaffst
du's auch."

Er setzte sich in schnellere Gangart, er
hatte ein Ziel.

Vor der großen Bierwirtschaft zupfte er

M. FREY

den fasernden Hemdkragen zurecht, wand das Regenwasser aus der Mütze,
fuhr glättend über sein Haar und trat ein.

Trockene Wärme umfing ihn, die sogleich an all seiner klebrigen Nässe
zu arbeiten begann. Geruch von Getränk, von Speisen und Tabak kam ihm
entgegen. Es war gut, er war geborgen.

Ein Ofenplatz sollte ihm nicht beschieden sein, dort hockten zu viele, er
brauchte einen einsamen Tisch. Als er saß, kam auch schon die Kellnerin;
ohne Mißtrauen, wie er sah, nicht anders wie zu jedem Gast. — Die wird
für mich bezahlen müssen, ging es ihm durch den Kopf. Mag sie! Bei ihren
täglichen Einnahmen kein gefährlicher Verlust!

Er bestellte ein Glas Bier, Wurst und Brot. — Am besten so: grübelte
er, wenn sie gerade was holen muß, steh' ich gemächlich auf und geh' lang-
sam hinaus in den Hof, wie wenn ich gleich wieder hereinkäm'. Die Mütze
steck' ich vorher unterm Tisch in die Tasche. Blöd — ich habe sie über mir
an den Haken gehängt; das hält' ich nicht tun sollen...

Ehe er mit Ueberlegen fertig war, war er schon fertig mit Bier und
Wurst. — Ich kann so schnell nicht wieder gehen, sagte er sich, — und ich
will auch gar nicht.

Er bestellte das Gleiche noch einmal. Schräg ihm gegenüber verzehrte
einer Braten und Kartoffelsalat und als Nachtisch einen Pfannkuchen.

Weshalb freß' ich eigentlich nichts als Brot und Wurst? Satt bin ich noch
lange nicht. Einmal wieder möcht' ich richtig satt werden. Heut' ist es gleich
— nein, heut' ist der wahre Tag dafür!

Als er nun ein drittes Bier und die Speisekarte verlangte, merkte er
nicht, daß die Kellnerin zögernd das Gewünschte heranbrachte und ihre
Blicke prüfend über ihn hingehen ließ. Er genoß den Braten sehr, weil der
Heißhunger durch die kleinen vorauslaufenden Gänge gestillt war, probte
das Getränk mit der Zunge und ließ es in beruhigten Zügen hinabrinnen.

Warum sollen wir nicht gleichfalls eine Mehlspeise essen?

Er mußte den Auftrag, einen Pfannkuchen zu backen, zweimal geben, ehe
die Kellnerin sich entschloß, ihn ausführen zu lassen. Sie ließ den Gast in
seinem zerweichten Anzug, seinem faserigen Leinenkragen, seiner zer-
riebenen Krawatte kaum mehr aus den Augen, — ihn, dessen Bewegungen
vor einem Teller und mit Messer und Gabel so ungeübt waren, weil er nur
den Löffel in eine Suppe zu tauchen oder Brot aus der Hand zu kauen
gewohnt war.

Der Pfannkuchen schmeckte ihm nicht. War er schon satt? Daran konnte
er nicht glauben. Etwas anderes störte ihn: seine Umgebung, die das be-
• ruhigende Gesicht verlor, denn das Lokal begann sich zu leeren; es ging auf
Mitternacht.

In seinem Unbehagen trank er aus und bestellte ein weiteres Glas. —
Beinah' zu spät daran, mußte er sich sagen, ich hätt' früher zusammenpacken
sollen. Spätestens vor dem Pfannkuchen. Er schob den halbverzehrten bei-
seite — um ihn gleich wieder herbeizuziehen und weiter an ihm zu würgen,
damit nur ja nichts auffalle. Eine ungeheuere Gefahr wurde ihm deutlich:
wenn er noch länger wartete, kam die Kellnerin einfach — mußte kommen
und Bezahlung der Zeche verlangen.

Ich weiß nicht, was ich tu' — sagte er sich ohnmächtig und erbittert, —
wenn sie mich jetzt gleich festnehmen
wollen. Ich weiß nicht, was ich tu'. Ich
mach' da nicht mehr mit... wirklich zu
spät daran ... aber ich laß' mich nicht fest-
nehmen ... alles Hab' ich satt, ich ...

Weshalb denn zu spät daran? So darf
man die Hoffnung nicht aufgeben! Es
wird schon gehen; es geht noch.

— Und wenn es doch nicht geht, was
tue ich dann? Am End' Hab' ich eine
Dummheit gemacht, Hab' mich in eine
Falle gesetzt? Gar nicht wohl überlegt
war der Plan. Ich hätt' früher anfangen
und hätt', solang das Lokal voll Gäste
war, aufhören sollen. Herrgott, wie
komm' ich ungesehen hinaus?

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Index
Hans v. Bartels: An der holländischen Küste
Alexander Moritz Frey: Der Zechpreller
 
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