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Er empfand: Je länger er zögernd überlegte, um so schmieriger wurde
die Lage.

Die Mütze laß' ich hängen — anders geht es nicht. Ich krieg schon wieder
etwas für den Kopf. Einen Hut irgendwo mitgehen lassen, ist nicht schwer. —
Auf! Höchste Zeit!

Er sah, daß die Kellnerin an die Schenke ging und daß sie ihn im Rücken
hatte, erhob sich und machte Schritte gegen die Tür. — Näher zur Tür hätt'
ich mich setzen müssen, alles habe ich falsch gemacht, dachte er zitternd und gab
darauf acht, sich harmlos zu bewegen. Er lauerte angespannt: gleich wird
man mich —?

Aber es ging gut. Niemand rief, keiner griff nach ihm von hinten.
Schon hatte er die Klinke in der Hand, stand im Hof, schritt, wankend aus
Schwäche, die der großen Spannung folgte, durch den Hausgang — sah schon
die regenspiegelnde Straße.

Da brach es hinter ihm auf wie die wilde Jagd, geführt von einer
kreischenden Frauenstimme.

Die Kellnerin, immer mit halbem Auge bei ihm, hatte sogleich sein Auf-
stehen vom Tische gespürt und gesehen, wie er sich durch die spärlich geöffnete
Tür hinauszwängte, als sollte der Eindruck vermieden werden, daß überhaupt
jemand den Raum verlasse. Aber alich wenn er nicht so verdächtig gegangen
wäre, hätte sie, wie sie's tat, den Kopf durch die Tür ihm nachgesteckt —
worauf sie sogleich erkannte, wie sehr ihr Geld in Gefahr war, und Gäste um
Hilfe anrief, den Zechpreller zu halten.

Der Mann tat einen entsetzten Sprung ohne Zielsicherheit, durch den er
sich schlecht vorwärts brachte, weil er damit an die Gangwand geriet. Aber
dann lief er schon draußen auf der Straße und an einer Autohaltestelle vor-
bei, — um die Hausecke in eine andere Straße, — und hinter ihm die, die ihn
erlegen wollten.

Weit kam er nicht. Die verwahrloste Fußbekleidllng behinderte ihn, der
ungewohnt beschwerte Bauch, das tobende Entsetzen, zur Strecke gebracht zli
werden. — Niemals dürfen sie mich fangen, und schon gar nicht jetzt und
heut'! schrie er sich verzweifelt zu.

Aber sie kamen näher-da hatten sie ihn schon. Zwei Schenkburschen

ein paar Gäste und Chauffeure von der Haltestelle, die mitgelaufen waren.
Hinterher keuchte die Kellnerin, üppig und wenig beweglich.

Es fügte sich, — weil der Verfolgte eine Ecke umlaufen hatte, — daß man
an einem anderen Eingang zur gleichen Gaststätte stand, der ein Haus gang-
artig durchbrach. Man umringte ihn. Den Versuch, sich loszureißen, unter-
ließ er bald. Er bekam Püffe und Schläge; er sagte gar nichts.

„Dort hinein! Wart' nur, Kerl!" befahl der Schenkkellner und wies auf
den Durchgang, der in den Hof der Wirtschaft zurückführte. „Und gleich die
Polizei angerufen! Bezahlen kann er ja doch nicht, der Lump! — Sonst
könnt' man ihn allenfalls wieder laufen lassen," setzte er in großmütiger
Geringschätzung hinzu.

„Nix laufen lassen!" kreischte fettig die Kellnerin. „Zwei Paar Wärst',
einen Braten mit Beilag', eine Mehlspeis', vier Bier, vier Brot — um gute
drei Mark bin ich geprellt! Hätt' der Gauner bloß die Wärst' verzehrt,
wollt' man nichts sagen."

Der Gefangene hatte einen Hieb auf den Magen bekommen. Ihm war
schlecht und matt. Aus —! mußte er denken. — Polizei, Haft, Gerichtssaal,
Zelle. Also doch aus.

Er ging betäubt, ohne Wollen — dorthin, wohin die Leute ihn haben
wollten; sie sahen seine Schwäche und Ungefährlichkeit.

Verspielt —! klopfte sein Puls. Aber ich will nicht verspielt haben. Ein

Ausweg — irgendeiner-ich mach' nicht mehr mit, — satt Hab' ich es

ganz und gar — Schluß, Schluß, Schluß!

Er blieb plötzlich stehen —, die anderen zögerten einen Augenblick,
ungewiß, was es gäbe. Er fuhr sich linier den Rock
— in die Herzgegend.

Will er eine Ohnmacht heucheln? Man ließ ihn
gewähren. Die Bewegung war nicht gefahr-
drohend; es trug dort niemand Waffen.

Aber dann hielt er doch eine in der Hand —- so
daß alles überrumpelt zurückprallte im erleuchteten
Durchgang.

Und dann fiel auch schon der Schuß. Hinter ihm
her Flüche, furchtbare Faustschläge ins Gesicht
und Nacken des gefährlichen Banditen, des Heim-
tückers, des jählings ganz Verhaßten.

Er sank — fast schon vor dem ersten Hieb, der
sich herangewagt hatte, er wurde begraben unter
einem Hagel von Streichen. Daß er nicht gelyncht
ward, verdankte er einem Herrn, der ihm zwar
noch mit dem Absatz ins Gesicht trat, dann aber
befehlsgewohnt ausries: „Halt! Er ist unschädlich!"

„Wart' — ich geb' dir schießen!" knirschte der
Schenkbursch; er und sein Genosse packten den Leb-
losen und beförderten ihn aus der Passage in den
Hof. Hinter dem halb Getragenen schleiften die

Beine her, als gehörten sie nicht dazu. Im regentraufenden Hofraum, an
der Wand, ließ man ihn los und liegen.

Jetzt waren auch zwei Schutzleute da, die Notizbücher zogen. Aber die
Vernehmung sollte ihre Schwierigkeiten haben. Denn das vielmals zer-
schlagene Gesicht begann aufzuschwellen. Blutfäden zogen sich von der ge-
platzten Unterlippe auf die Krawatte. Der Zechpreller lag mit geschlossenen
Augen und menschenunähnlich gedunsen.

Weil aber ein Protokoll Dienstvorschrift und im Augenblick das Wichtigste
war, stemmte man ihn hoch und schüttelte ihn. Und im Kreise der Schau-
lustigen, die sich mehrten, begann das Verhör: Wie er heiße, — wo er
wohne, — ob er überhaupt irgendwo wohne, — ob der Revolver ihm ge-
höre, — ob er zugebe, geschossen zu haben, — ob das denn angängig sei, um
sich zu schießen, weil man mit der Zeche durchgehen wolle?

Es kam keine Antwort. Der Gefragte war wohl nicht ganz bei sich. Er
schien die Lippen voneinander zu nehmen, die Augen öffnen zu wollen, aber
sie lagen unter Wülsten von entzündetem Fleisch.

„Geschieht Ihnen schon recht," sagte der Schutzmann, der die ergebnis-
losen Versuche des Häftlings, zu reden, begriff. „Man schießt doch nicht auf
Menschen, weil man kein Geld hat. Sie haben die Prügel mehr als ver-
dient. Aber jetzt nehmen Sie sich zusammen, ich muß das Protokoll machen.
Stehen Sie einmal auf; können Sie nicht aufstehen? He, — Sie!"

„Laßt ihn liegen," sagte aus den Gaffern einer, heiser vor Wut. „Ver-
recken soll er! Haut ihm den Stiefelabsatz in die Fresse, bis er hin ist."

„Ruhe!" befahl der Schutzmann. „Oder ich laß' den Hof räumen. —
Was wollen Sie sagen — ja —?"

Der Zechpreller tat nämlich den Mund auf. „Ich — mich selbst —"
hauchte er, geifernd wie ein ältliches, krankes, entstelltes Kind.

„Ja, Sie — Sie haben geschossen — und?" wollte der Schutzmann
weiter helfen.

Der Liegende hauchte wieder, ohne Augen: „ich mich — da —" und seine
Hand tastete schwach zur Brust.

Immer noch begriff niemand. Bis eine Frauenstimme angstvoll fragte:
„Wer ist denn überhaupt getroffen? Am End' er selber? Am End' hat er
sich —"

Die Schutzleute gingen stumm daran, jenem Weste und Rock aufzu-
knöpfen. Weil der Verhaftete lag, war das nicht einfach zu bewerkstelligen.

Nun legten sie die magere, schweißig kalte Brust frei, — und da wurde
freilich offenbar für alle Augen, was geschehen war.

„Sanitätswache. Wagen mit Bahre," raunte der eine dem anderen
Schutzmann zu, worauf der in dienstlichen Schritten ging, um den Fern-
sprecher zu bedienen.

„Setzt ihn doch auf einen Stuhl. Mein Gott, wie kann man einen Ver-
wundeten so im Dreck liegen lassen!" weinte beinahe die Mitleidige.

Ein Stuhl wurde gebracht, aber es zeigte sich, daß der Zechpreller lieber
lag. Von Händen, die sich nur ungern besudelten, ward er halb auf den Sitz
geschoben — doch mußte er mit stöhnendem Wehlaut gleich wieder herunter-
rutschen: es atmete sich leichter ausgestreckt.

So beließ man ihn — und wartete auf das Weitere. Der Schutzmann
hatte sein Notizbuch eingeschoben. Bis der Sanitätswagen käme, mochte ge-
raume Weile vergehen. Schweiß des Todes, Blut, Regen und die rußige
Brühe des Hofes überzogen unterdessen mit einer glitschigen Schicht den
Liegenden, der sich leise regte und einmal ächzend wälzte.

„Kann man ihn den nicht unter Dach bringen?"

„Er will ja nicht sitzen," sagte der Schutzmann entschuldigend und ab
lehnend. „Gleich wird der Wagen da sein. Er liegt besser ruhig." Ihn:
wäre es sehr unerwünscht gewesen, anpacken zu müssen. Das sollten nur
die Sanitätsleute tun.

Das Publikum nahm ab. Ein Heimgehender
schob, nach flüchtigem Blick, Neugierige beiseite
und meinte hell und leichthin: „Weiter. Im Krieg
sind viele so dagelegen."

„Und werden noch manche so liegen," sagte
prophetisch drohend und mutig sein Begleiter, ein
älterer Herr, der selber nicht mehr in Betracht kan:
für die von ihm angedeuteten Ereignisse.

„Kann man ihm gar nichts Gutes tun?" fragie
wieder die Frauenstimme.

Aus dem Lokal, um auf die Toilette zu gehen,
trat ein Arzt — und er trat beiläufig heran. Man
machte ihm Platz, er beugte sich nieder, bog das
jämmerliche Hemd auseinander, befühlte Brust,
Hals und Puls.

„Unnötig, da noch irgendwas zu tun. Er macht's
keine halbe Stunde mehr." Dann ließ er,den Arm
des Sterbenden los und sab sich suchend um. wo-
hin er den Schmutz wischen könne, der von seinen
Fingern troff.

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