KUSSE
FÜR 5 PFENNIG MENSCHLICHKEIT
VON HANS BAUER
Wenn ich in eine frembe Stabt fahre unb
mich von bem Gefühl ber Vereinsamung befreien
möchte, bann bebiene ich mich eines überaus ein-
fachen Mittels, um ans ber Herzenskälte, bie
mich umgibt, ben wärmenden Funken ber
Teilnahme an mir zu schlagen. Ich sehe mich
auf bie Straßenbahn, nenne bem Schaffner bie
Straße, an ber ich aussteigen will, bitte ihn,
mich auf sie aufmerksam zu machen, wenn es
soweit ist, unb gebe ihm ein Trinkgelb von
fünf Pfennigen. Solches einem Schaffner ge-
gebene Trinkgelb unterscheibet sich grundsätzlich
von anberen Trinkgelbern. Einmal dadurch, day
es kein Pflicht-Trinkgelb, kein erwartetes ist,
keines, mit bem gerechnet wurde, zum andern
dadurch, baß es nicht am Ende, sondern am
Anfang einer Dienstleistung steht. Der Trink-
gelbspenber in der Straßenbahn ist nicht der
Eine unter vielen, sondern der Ausnahme-Fall,
die Rarität. Er avanciert vom Passagier zum
Pflegebefohlenen des Schaffners. Er begibt sich
in seinen Schuß. Er erwirbt für die Dauer
einer Straßenbahnsahrt einen respektvollen Freund,
einen bereitwilligen Helfer, einen machtvollen Pro-
tektor. Der Schaffner geht an ihm anders vor-
über als an den anderen, auch wenn er genau
fo vorübergeht. Er geht vorüber mit einer zum
Sprunge geduckten Dienstbereitschaft, mit der
steten Neigung, in einem Konfliktsfall für den
Spender Partei zu ergreifen. 5 Pfennig sind ein
geringer Betrag: zu nahe am Nullpunkt, als
bah als korrumpiert gelten könnte, wer sich durch
ihn beeinflussen läßt: keine Gabe, nur die An-
deutung einer Gabe, nur ihre Idee. Der Gegen-
wert ist ein reales Absolutiim: Die Solidarität
des Schaffners mit dem Spender.
Für 5 Pfennig Trinkgeld fühlt man sich in
dem Wagen geborgen. Man hat Jemanden auf
seiner Seite. Man wirb von Jemandem mit
zärtlichen Augen beobachtet. Man ist heraus-
gehoben aus der Menge. Man hat seinen
Stempel. Wenn jeßt irgend etwas geschähe, bas
nach Jahr und Tag ein gerichtliches Nachspiel
hätte und wenn der Schaffner bann als Zeuge
vernommen würbe, so würbe er im Herzens-
innern nicht objektiv sein. Das Herzensinnere
würbe für den Spender schlagen, auch wenn
sein Mund gegen ihn aussagen müßte.
Wenn dem Spender jeßt etwas zustoßen
würbe, und der Schaffner hätte über seine
Wahrnehmungen zu berichten, so würbe er den
von dem Unfall Betroffenen unwillkürlich als
„den Herrn, der bas Trinkgeld gab" determi-
nieren. Niemals noch habe ich es erlebt, baß
ein Schaffner, dem ich ein Trinkgeld gab, es
vergessen hätte, mich auf meine Aussteigstelle
aufmerksam zu machen, niemals noch, baß er
mir beim Aussteigen nicht behilflich gewesen
wäre und nicht ein Honneur gemacht hätte.
In glücklichen Tagen gedenke ich nur selten des
Schaffners, aber in Stunden der Bedrückung
handle ich mir für 5 Pfennig feine teilnehmende
Menschlichkeit und liebevolle Fürsorglichkeit ein.
Billiger als er machts keiner.
Mit dem Mädchen lag ich still im Grase.
— Ach, so betrunken flogen alle Vögel! —
„Wie ist’s heute mit dem Küssen, Kind?“
„Sag es selbst,“ bat sie leise.
„Du sollst mich küssen so oft am Tag,
Wie die Bachstelz mit dem Steerte blitzt,
Wie der Waldspecht perlend die Stämme
beklopft,
Wie die Rotbrust vor seinem Weibchen
knickst.“ —
„Das ist genug!“ sagt sie leise.
„Und wie wird’s nachher mit dem Küssen,
Kind?“
— Ach, so betrunken flogen alle Vögel! -
„Sag. es selbst,“ bat sie leise.
„Du sollst mich küssen dreimal in der Nacht!“
„Das ist wenig,“ sagt sie leise.
„Dreimal in der Nacht!
Zuerst den Kuß der Gewährung
Sollst du mir geben.
Dann den Kuß des hellen Brandes
Will ich haben.
Und den Kuß der Verzeihung
Kann ich gebrauchen.“
„Das wird schön!“ sagt sie leise.
K. A. Sch i m me 1 p feng
Seeräuberbeute
Lithographie von-Max Ludwig
531
FÜR 5 PFENNIG MENSCHLICHKEIT
VON HANS BAUER
Wenn ich in eine frembe Stabt fahre unb
mich von bem Gefühl ber Vereinsamung befreien
möchte, bann bebiene ich mich eines überaus ein-
fachen Mittels, um ans ber Herzenskälte, bie
mich umgibt, ben wärmenden Funken ber
Teilnahme an mir zu schlagen. Ich sehe mich
auf bie Straßenbahn, nenne bem Schaffner bie
Straße, an ber ich aussteigen will, bitte ihn,
mich auf sie aufmerksam zu machen, wenn es
soweit ist, unb gebe ihm ein Trinkgelb von
fünf Pfennigen. Solches einem Schaffner ge-
gebene Trinkgelb unterscheibet sich grundsätzlich
von anberen Trinkgelbern. Einmal dadurch, day
es kein Pflicht-Trinkgelb, kein erwartetes ist,
keines, mit bem gerechnet wurde, zum andern
dadurch, baß es nicht am Ende, sondern am
Anfang einer Dienstleistung steht. Der Trink-
gelbspenber in der Straßenbahn ist nicht der
Eine unter vielen, sondern der Ausnahme-Fall,
die Rarität. Er avanciert vom Passagier zum
Pflegebefohlenen des Schaffners. Er begibt sich
in seinen Schuß. Er erwirbt für die Dauer
einer Straßenbahnsahrt einen respektvollen Freund,
einen bereitwilligen Helfer, einen machtvollen Pro-
tektor. Der Schaffner geht an ihm anders vor-
über als an den anderen, auch wenn er genau
fo vorübergeht. Er geht vorüber mit einer zum
Sprunge geduckten Dienstbereitschaft, mit der
steten Neigung, in einem Konfliktsfall für den
Spender Partei zu ergreifen. 5 Pfennig sind ein
geringer Betrag: zu nahe am Nullpunkt, als
bah als korrumpiert gelten könnte, wer sich durch
ihn beeinflussen läßt: keine Gabe, nur die An-
deutung einer Gabe, nur ihre Idee. Der Gegen-
wert ist ein reales Absolutiim: Die Solidarität
des Schaffners mit dem Spender.
Für 5 Pfennig Trinkgeld fühlt man sich in
dem Wagen geborgen. Man hat Jemanden auf
seiner Seite. Man wirb von Jemandem mit
zärtlichen Augen beobachtet. Man ist heraus-
gehoben aus der Menge. Man hat seinen
Stempel. Wenn jeßt irgend etwas geschähe, bas
nach Jahr und Tag ein gerichtliches Nachspiel
hätte und wenn der Schaffner bann als Zeuge
vernommen würbe, so würbe er im Herzens-
innern nicht objektiv sein. Das Herzensinnere
würbe für den Spender schlagen, auch wenn
sein Mund gegen ihn aussagen müßte.
Wenn dem Spender jeßt etwas zustoßen
würbe, und der Schaffner hätte über seine
Wahrnehmungen zu berichten, so würbe er den
von dem Unfall Betroffenen unwillkürlich als
„den Herrn, der bas Trinkgeld gab" determi-
nieren. Niemals noch habe ich es erlebt, baß
ein Schaffner, dem ich ein Trinkgeld gab, es
vergessen hätte, mich auf meine Aussteigstelle
aufmerksam zu machen, niemals noch, baß er
mir beim Aussteigen nicht behilflich gewesen
wäre und nicht ein Honneur gemacht hätte.
In glücklichen Tagen gedenke ich nur selten des
Schaffners, aber in Stunden der Bedrückung
handle ich mir für 5 Pfennig feine teilnehmende
Menschlichkeit und liebevolle Fürsorglichkeit ein.
Billiger als er machts keiner.
Mit dem Mädchen lag ich still im Grase.
— Ach, so betrunken flogen alle Vögel! —
„Wie ist’s heute mit dem Küssen, Kind?“
„Sag es selbst,“ bat sie leise.
„Du sollst mich küssen so oft am Tag,
Wie die Bachstelz mit dem Steerte blitzt,
Wie der Waldspecht perlend die Stämme
beklopft,
Wie die Rotbrust vor seinem Weibchen
knickst.“ —
„Das ist genug!“ sagt sie leise.
„Und wie wird’s nachher mit dem Küssen,
Kind?“
— Ach, so betrunken flogen alle Vögel! -
„Sag. es selbst,“ bat sie leise.
„Du sollst mich küssen dreimal in der Nacht!“
„Das ist wenig,“ sagt sie leise.
„Dreimal in der Nacht!
Zuerst den Kuß der Gewährung
Sollst du mir geben.
Dann den Kuß des hellen Brandes
Will ich haben.
Und den Kuß der Verzeihung
Kann ich gebrauchen.“
„Das wird schön!“ sagt sie leise.
K. A. Sch i m me 1 p feng
Seeräuberbeute
Lithographie von-Max Ludwig
531