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J u

31-JAHRGANG

G E N D

1926/NR. 28

DER LEBENDE MOTOR

VON ERNST HOFERICHTER

Lukas Pinsel spielte im Land herum auf seiner Mundharmonika. Blies
uch damit Brot und Suppen zusammen. Und für die Nacht eine Kammer
m'* Kerzenlicht, Waschschüssel und Strohsack.

2n Tafernwirtschaften spielte er auf, in Fabrikkantinen.und Kellercafos.
Da lehnte er am Türpfosten, schob den Hut hinter die Stirne zurück,
sein Haar als blonder Wald hervorwehte — und faltete seine Hände
über die Harmonika, die er wie ein Weberschiffchen an seinem Mund hin-
und Hergleiten ließ.

^ Er konnte Walzer blasen, die waren fein wie der Wind, der beim
schaukeln entsteht. Daß die Beine bleichsllchtiger Wasscrmädchen unter
dem Rocksaum für sich zu tanzen anfingen.

So spielte Lukas Pinsel mit seiner Harmonika von Spelunke zu Spe-
lunke den Gästen auf. Blies er seine klingende Welt in ihre schnaps-
durchblühten Gesichter, fettigen Wurstteller und dampfenden Suppen-
Ichüsseln hinein. Zuweilen steckte ihm durch den Spalt der Küchentüre
eine ofenwarme Hand einen Pfannenrest zu, mit dem er sich dann in
eine Ecke zurückzog. Nie aber geschah es, daß er sich in lachende Runden
letzte, wo aufgetürmte Schreie, Herzassen und Fusel auf die Tischplacke
l'elen. Denn helle Worte brachte er kaum aus sich heraus. Und alle
Umwelt war ihm schattenhaft, unwichtig und oft gar nicht vorhanden.
Blinder Spiegel und trübes Glas ...

Um so mehr aber sah und horchte er in sich. Da hatte er schon seit
geraumer Zeit ein Seltsames und Wunderbares entdeckt. Einem großen
Geheimnis war er da auf der Spur, eine ungeahnte Erkenntnis nahm da
immer deutlichere Formen an.

Jeden Morgen horchte er in sich hinein, wie ein Schuljunge nach seiner
Fleischfliege in der Streichholzschachtel. Cr beobachtete mit jedem Tag
Bestimmteres, schärfer Umrisseneres. Aber nicht einmal feinem eigenen
Munde wagte er diese Entdeckung zu einem leisen Flüstern zu geben.
Denn sie schien ihm unaussprechlich . . . !

Da war es Herbst geworden. Die Baumkronen rosteten gleich alten
Grabkreuzen zusammen. Die letzten Zwetschgen fielen ins Gras. Der
Wind wehte braune Briefe über die Landstraßen. In den engen Gaffen
der Städte roch es nach Most. Und die Nächte zogen graue Schleier
hinter sich her.

Lukas ging mit bleiernen Füßen seiner Herberge zu. In seiner
Kammer über der Wirtsstube stieg aus dem Fußboden gröhlender Gesang
auf. Unter seinem Bettstand hämmerte das Tafelklavier ... Er ver-
stopfte sich die Ohren mit aufgeweichtem Papier, um noch einmal in sich
über das Letzte zu lauschen. Jetzt hatte er diese Gewißheit mit den Händen
ergreifen können. So nahe war sie ihm inzwischen geworden . . .

Es klopfte an die Türfüllung. Draußen stand der Wirt und rief den
Harmonikaspieler nach unten. Die Gäste wollten noch Musik von ihm.
Und Lukas schlüpfte geehrt in seine Hose . . .

Da ging es hoch her. Der Most tropfte über Tische, Bärte und Bäuche.
Alle waren Brüder geworden und sprachen sich vor einander an jedem
Verborgenstem frei.

Lukas Mufike machte ihre Seelen zu einem gemeinsamen Bad, in dem
alle plätscherten. Und einer, er war Lackierer in einer Sargfabrik, fühlte
die befreiende Kraft, die aus des Harmonikaspielers Töne über sie kam —

Dinkelzbübl Walter Lehner

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