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fahrenden Zuges seltsam deutlich an Mein Ohr drangen. Aber was ich
auch zu denken unternahm, überall verfochten mich unverwandt die
traurigen Augen der fremden Frau. Ich entzündete'Licht und löschte es
wieder — beim Lampenschein leuchtete die Rose in fast körperlich schmerz-
licher Glut. Ich wollte ausgehen — aber beim Gedanken an die lärmen-
den Menschen und die lauten Lokale der Großstadt ekelte mich. Ich blieb,
entkleidete mich und legte mich zu Bett. In der Stille des Lagers und des
Halbschlummers beruhigten sich meine jagenden Gedanken so weit, daß sie
aus der Oberfläche des Gehirns zur Tiefe des Herzens niedersanken und
mich mit dem Gefühl einer wahnsinnigen Liebe erfüllten. Würde ich die

geliebte Frau Wiedersehen? Nein, rief da eine Stimme in mir und er-

füllte mich mit unerklärlicher Angst und zugleich mit dem Gefühl jener
Ohnmacht gegen das Schicksal, die beide manchmal in Nächten das Be-
wußtsein einer furchtbar hilflosen Einsamkeit erstehen lassen. Endlich
mußte ich doch eingeschlasen sein, aber nur, um im Traum aufs neue vom
Erlebnis des Tages erfaßt zu werden.-

Aus weiter Ferne hörte ich wieder die Stimme der Geige und sah, wie
die Rose auf meinem Tisch im Dunkeln blutig leuchtete. Da erhob ich

mich, um sie zurückzutragen. Aber plötzlich war die Rose in meiner Hand

mein eigenes, blutrotes Herz. Cs leuchtete mir auf meinem seltsamen,
nächtlichen Gang durch die Stadt bis hin zum Garten der schönen, trau-
rigen Frau, der ich dies Herz zu Füßen legen wollte.

Ich stand wieder am Gitter — lauter und schluchzender klang die Geige
— der Rosenstrauch schien mir voller erblüht als am Tage. An der Stelle,
ix? ich die Rose gepflückt hatte, prangte eine neue, schönere. Die Frau mit
den traurigen Augen lehnte immer noch an der Laube am See. Das ganze

unendliche Weh meiner wahnsinnigen Liebe überkam mich bei ihrem
Anblick.

„Ich bringe die Rose zurück, die mein Herz geworden ist — nimm es!"
sprach ich, indem ich die Hand durchs Gitter streckte.

Aber die Frau schüttelte leise das Haupt und das Ahnen eines Lächelns
glitt um ihren Mund.

„Nimm es," bat ich wieder.

Da geschah etwas Seltsames. Langsam trat die Frau an die moosigen
Stufen zum Teiche heran, löste ihr Kleid, hob die Arme langsam gegen
mich und stand nackt in der wundersamen Stille der Nacht.

Ich wurde von diesem Geben so überreich an Schönheit, daß ich am
Zaun in die Knie sank wie vor einem Wunder.

Doch etwas blendete mich störend. Es war die weiße Glaskugel —
nein, jetzt war es keine Glaskugel mehr, sondern ein weißer, leuchtender
Totenschädel und eine ebenso weiße Knochenhand griff langsam nach der
schönsten Rose und riß ein Blütenblatt aus ihrem Kelche. Wie ein großer
Blutstropfen sank es zur Erde.

Ein Schrei stockte in meiner Kehle, aber schon sank ein zweites Blatt
zu Boden — ein drittes — viertes — und je mehr Blätter sanken, desto
tiefer stieg die nackte Frau ins Wasser des Teiches. Schon spielten die
Wellen um die weißen Brüste. Ich wollte rufen, aber meine Stimme ver-
sagte — ich wollte über den Zaun setzen, um zu retten, aber ich war un-
fähig, ein Glied zu rühren. Immer schneller bluteten unterdessen die
Blätter zu Boden und nun sank das letzte; ich sah, wie die Knochenhand es
zierlich faßte und dabei graziös den kleinen Finger zur Seite spreizte. —

Nähende Mädchen

Zeichnung von Max Unold

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Max Unold: Nähende Mädchen
 
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