Landschaft in den Vorbergen
Ms das Kind zum erstenmal Krämpfe bekam, blickte er triumphierend
und bösartig durch das kleine Dachstubenfenster hinüber zum Stephansdom.
„Holen s den Arzt," wimmerte die Marietta. Doch er tat es nicht. Cr
lief von einer Ecke in die andere und wich vor ihren bittenden Händen zu-
rück wie ein geducktes Tier. Die Zeit verrann. Minuten tropften wie
schweres Gift aus einem dunklen Becher in das Weinen der kleinen Mutter,
bis sie sich aufrasfte und selbst fortschleppte. Der Arzt kam und die Gefahr
schien vorüber. Aber später kamen die Krämpfe wieder. Tagelang rang
sich Marietta durch Angst und Not und Qual. Cs schien dann langsam besser
zu werden.
Eines Tages, Marietta war wieder aufgestanden und hatte einen kleinen
Weg durch den Sommerabend gemacht, geschah das Schreckliche. Als Ma-
rietta heimkam, mar das Kind tot.
Im Abenddämmern warf sie sich über den kleinen Körper, schrie und
wimmerte. Sehr leise wurde allmählich das Schreien, aber es hörte nicht
auf. Beppo stand in der Ecke und hatte seltsam glühende Augen.
„Es kann nit tot sein, es kann nit tot sein," weinte Marietta. Da nickte
der Bucklige bestimmt und entsetzlich. Er kam mit seinen kleinen, wiegenden
Schritten näher, zog Marietta weg vom Bett und flüsterte geheimnisvoll:
„Es ist tot, ganz tot, Sie müssen's glauben."
Lind war der Abend und weiße, kleine Wolken sah man durch das Dach-
stubenfenster um den Stephansturm quillen. Ein Duft war verirrt in der
Lust. Die Vögel sangen noch. Irgendwoher erklangen die Töne eines
Instrumentes.
Marietta stand plötzlich gerade im Zimmer und hatte ein sehr weißes
Gesicht. Die Hände hingen herab. „Blümerl", flüsterte sie, „i tu an paar
Blllmerl holen für d' Annie."
Sie ging fort. — — „Es ist tot," sagte der Bucklige. Er leuchtete mit
einem Streichholz in das winzige Antlitz. „O, der Hals, blaue Flecken,
Oeorg Sdirimpf
blaue Flecken,-Ihr seid zu hart, ihr alten, bösen Hände." Er lachte irr
und sah auf seine Finger nieder. Er blieb im Dämmern unbeweglich vor
dem Bett stehen, stundenlang. Das Morgengrauen kroch schon aus den
Wolken, da schwankte er plötzlich und schlug jäh und schwer zu Boden wie
ein Klotz.
Marietta lief durch die Straßen und kam hinaus vor die Stadt. Draußen
am Walde standen ein paar einzelne, freundliche Häuser. Sie überlegte sich
angestrengt, was sie eigentlich wolle. Sie fand es nicht. Endlich ging sie
langsamen Schrittes in irgendein Haus hinein, das weiß und hell in einem
Garten lag. Jemand kam ihr entgegen, fragte sie etwas. Sie antwortete
etwas Unbegreifliches. Man brachte ihr Brot und Milch und sie saß plötz-
lich an einem Tisch. Als sie aufschaute, fiel ihr Blick gerade auf einen Flügel,
der vor dem großen, runden Fenster stand. Die schwarze, glänzende Fläche
weckte wohltuend ein vergessenes, altes Stück Dasein. „Papi," murmelte sie
zärtlich. Sie sprang plötzlich auf. „Papi," murmelte sie nochmals. Ihr
Bater, der Musiker, stand vor ihr. Er winkte und winkte und — ja, er hatte
die Annie auf dem Arm und dieses winzige Bündel winkte auch. „I komm'
schon," flüsterte sie und wurde ganz ruhig.
Sie deutete auf den Flügel und fragte etwas. Freundliches Bejahen
drang antwortend von einer Stimme zu ihr. „Spielen's halt den Bruckner,
i birt' schön," sagte sie höflich und setzte sich, „ja, die achte, wenns sein kann,
die Michael-Symphonie."
Klänge umbrausten sie. Marietta atmete tief und langsam. Sie griff nach
dem Brot. Es roch frisch und kräftig. Sie aß es. Es wurde ganz klar und
hell in ihrem Innern. Wunderbar war es, so zu sitzen und Brot zu essen,
dunkles, duftendes Brot. Es war ein wohltuendes, verströmendes Emp-
finden, dieses Essen, ein Aufklingen ihres einsamen Leibes, der nichts mehr
wußte von einer Seele, der nichts tat, als dieses dankbare Hinnehmen. Die
Seele war irgendwo in einer fremden Ferne.
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Ms das Kind zum erstenmal Krämpfe bekam, blickte er triumphierend
und bösartig durch das kleine Dachstubenfenster hinüber zum Stephansdom.
„Holen s den Arzt," wimmerte die Marietta. Doch er tat es nicht. Cr
lief von einer Ecke in die andere und wich vor ihren bittenden Händen zu-
rück wie ein geducktes Tier. Die Zeit verrann. Minuten tropften wie
schweres Gift aus einem dunklen Becher in das Weinen der kleinen Mutter,
bis sie sich aufrasfte und selbst fortschleppte. Der Arzt kam und die Gefahr
schien vorüber. Aber später kamen die Krämpfe wieder. Tagelang rang
sich Marietta durch Angst und Not und Qual. Cs schien dann langsam besser
zu werden.
Eines Tages, Marietta war wieder aufgestanden und hatte einen kleinen
Weg durch den Sommerabend gemacht, geschah das Schreckliche. Als Ma-
rietta heimkam, mar das Kind tot.
Im Abenddämmern warf sie sich über den kleinen Körper, schrie und
wimmerte. Sehr leise wurde allmählich das Schreien, aber es hörte nicht
auf. Beppo stand in der Ecke und hatte seltsam glühende Augen.
„Es kann nit tot sein, es kann nit tot sein," weinte Marietta. Da nickte
der Bucklige bestimmt und entsetzlich. Er kam mit seinen kleinen, wiegenden
Schritten näher, zog Marietta weg vom Bett und flüsterte geheimnisvoll:
„Es ist tot, ganz tot, Sie müssen's glauben."
Lind war der Abend und weiße, kleine Wolken sah man durch das Dach-
stubenfenster um den Stephansturm quillen. Ein Duft war verirrt in der
Lust. Die Vögel sangen noch. Irgendwoher erklangen die Töne eines
Instrumentes.
Marietta stand plötzlich gerade im Zimmer und hatte ein sehr weißes
Gesicht. Die Hände hingen herab. „Blümerl", flüsterte sie, „i tu an paar
Blllmerl holen für d' Annie."
Sie ging fort. — — „Es ist tot," sagte der Bucklige. Er leuchtete mit
einem Streichholz in das winzige Antlitz. „O, der Hals, blaue Flecken,
Oeorg Sdirimpf
blaue Flecken,-Ihr seid zu hart, ihr alten, bösen Hände." Er lachte irr
und sah auf seine Finger nieder. Er blieb im Dämmern unbeweglich vor
dem Bett stehen, stundenlang. Das Morgengrauen kroch schon aus den
Wolken, da schwankte er plötzlich und schlug jäh und schwer zu Boden wie
ein Klotz.
Marietta lief durch die Straßen und kam hinaus vor die Stadt. Draußen
am Walde standen ein paar einzelne, freundliche Häuser. Sie überlegte sich
angestrengt, was sie eigentlich wolle. Sie fand es nicht. Endlich ging sie
langsamen Schrittes in irgendein Haus hinein, das weiß und hell in einem
Garten lag. Jemand kam ihr entgegen, fragte sie etwas. Sie antwortete
etwas Unbegreifliches. Man brachte ihr Brot und Milch und sie saß plötz-
lich an einem Tisch. Als sie aufschaute, fiel ihr Blick gerade auf einen Flügel,
der vor dem großen, runden Fenster stand. Die schwarze, glänzende Fläche
weckte wohltuend ein vergessenes, altes Stück Dasein. „Papi," murmelte sie
zärtlich. Sie sprang plötzlich auf. „Papi," murmelte sie nochmals. Ihr
Bater, der Musiker, stand vor ihr. Er winkte und winkte und — ja, er hatte
die Annie auf dem Arm und dieses winzige Bündel winkte auch. „I komm'
schon," flüsterte sie und wurde ganz ruhig.
Sie deutete auf den Flügel und fragte etwas. Freundliches Bejahen
drang antwortend von einer Stimme zu ihr. „Spielen's halt den Bruckner,
i birt' schön," sagte sie höflich und setzte sich, „ja, die achte, wenns sein kann,
die Michael-Symphonie."
Klänge umbrausten sie. Marietta atmete tief und langsam. Sie griff nach
dem Brot. Es roch frisch und kräftig. Sie aß es. Es wurde ganz klar und
hell in ihrem Innern. Wunderbar war es, so zu sitzen und Brot zu essen,
dunkles, duftendes Brot. Es war ein wohltuendes, verströmendes Emp-
finden, dieses Essen, ein Aufklingen ihres einsamen Leibes, der nichts mehr
wußte von einer Seele, der nichts tat, als dieses dankbare Hinnehmen. Die
Seele war irgendwo in einer fremden Ferne.
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