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Baum w eg

A. Burkart

Dann quoll jäh und herrlich
noch einmal alle Süßigkeit des
Seins in ihr auf. Heißes Ge-
schehen brandete um sie, Fernen
wurden aufgetan, bunte Stunden
standen in ihrem Herzen so steil
und hoch wie gotische Dome.
Lächeln blühte aus ihren Augen
und von ihrem Munde. Schön
war es gewesen, das Leben, aber
nun war sie müde, ganz müde.

„Nun ist es g'nug," sagte sie laut
und legte still den Rest des Brotes
zurück. „Oder ja, noch einmal den
zweiten Saß, wenn i bitten darf."

Es war etwas in ihrem weißen
Gesicht, in ihren großen feierlichen
Augen, daß man ihr willfahrte.
Als die Klänge verhallten, stand
Marietta leise auf und dankte den
beiden Menschen, die am Flügel
saßen. Eine weißhaarige Dame
geleitete sie aus dem Gemach und
sprach freundliche Worte. Marietta
küßte die gütige Hand.

Sie schritt in die Nacht hinaus.
Das Wasser der Drau rauschte
leise. Grün schimmerte es im Licht
des Mondes. „Di^ Weiden sin-
gen," sagte Marietta vor sich hin,
„und die Wolken gehen schnell
über den Himmel." Sie sah er-
staunt um sich. Was war das alles
nur? Man konnte es nicht be-
greifen.

Sie stand versonnen am Ufer.
„Nein," sagte sie langsam und
schüttelte den Kopf, „es geht nim-
mer, i mag's nimmer allein, ohne
das Kindel." — — „Es is halt
g'nug, es is schon so, und man
muß sterben können, wenn d' Zeit
da is. Grad so, wies Leben
kommt, und man weiß nix davon,
kommt der Tod auch. Da weiß
man schon gar nix davon. Es is
halt so. Aber schön wars, sehr
wunderbar wars. Und der Himmel
is gut heute nacht, silbern und hell,
wie das Auge der Mutter Gottes."

Sie hob langsam die Arme
empor, stand minutenlang horchend
in der Julinacht, das Antlitz zum
Himmel gewendet. Dann glitt sie
leise in das eiskalte Wasser des
Gebirgsflusies. Schnell und reißend
waren die Wellen der Drau und
Marietta tauchte nicht mehr auf.

Gleich am nächsten Morgen
merkte man es, daß die Tür der
kleinen Dachstube weit offen war.
Und man fand den buckligen
Schuster zusammengekrümmt vor
dem Bette. Er war tot, auch das
Kind. Das lag wachsbleich im
weißen Hemdlein in den Kissen.

Man wunderte sich und entsetzte
sich. Man redete und vermutete.
Die Polizei kam und ging wieder.
Als man die beiden Leichen fort-
brachte, schien die Sonne golden
auf den bunten Lampenschirm. Das
rote Stück Teppich lag zerstampft
von den fremden Füßen. Marietta
blieb verschwunden.

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Albert Burkart: Baumweg
 
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