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5. zum 6. Juli durch Ausübung von Klavierspiel ruhestörenden Lärm
verursacht.

Was, er, Kanisper, hätte etwas verursacht, er hätte überhaupt noch
nie etwas verursacht, und das wäre kein Lärm gewesen, sondern der
Torgauer Marsch.

„Kann schon sein", meinte der Beamte, aber auch jener zähle nach
elf Uhr nachts bei geöffneten Fenstern unter die Kategorie des ruhe-
störenden Lärms.

Der ganze Stolz des Unbescholtenen empörte sich in Herrn Kanisper.
Er beantragte richterliche Entscheidung, er wurde verurteilt.

Lächerlich, dachte er, ein Mann wie ich, der einer der Eckpfeiler der
menschlichen Ordnung ist, kann überhaupt keinen ruhestörenden Lärm
verursachen. Seit diesem Strafmandat fühlte Herr Kanisper sich an Händen
und Füßen gefesselt, jetzt war er beschälten. Stachel waren ringsum, gegen
die es ihn zu löcken gelüstete. Morgens, wenn er aufstand, hätte er gern

die Zigarettenasche aus dem Fenster geworfen; er durfte nicht. Es zuckte
ihm in den Armen, nach elf Uhr vormittags eigenhändig seinen Teppich
zu klopfen; er durfte nicht. Nie war er vorher von der fahrenden Tram-
bahn abgesprungen, jetzt hielt es ihn nicht mehr aus der Plattform. Schutt
abgeladen hätte er am liebsten auf jedem freien Fleck. Einbahnstraßen
haßte er. Grundsätzlich fuhr und ging er links. Zum Baden konnte er
sich überhaupt nur all verbotenen Plätzen entschließen. Daß es so viele
verbotene Wege und verbotene Eingänge auf der Welt gäbe, hatte er
vorher nie bemerkt.

Nichts konnte Herr Kanisper mehr tun, ohne daß das einschlägige
Verbot in Flammenschrift vor seine Seele trat: hier durste er kein Vieh
treiben, dort durfte er die hungernden Vögel nicht mit Schwarzbrot
füttern, hier mußte er die Kleider vor dem Verlassen einer Anstalt ordnen.
Obstschalen, Haare und Watte durfte er nicht der städtischen Kanalisation
anheimgeben.

2eichnun§ »oi J. Geis

Wasserpolizei. „Ob Sie a Nixen san oder net, des is ganz wünscht — Baden und Fischen
is da verboten — und noch dazu ganz nacket!"

Sein ganzer Tageslauf
war eingerahmt von Ver-
boten. Und Herr Kanisper
konnte dem Drange nicht
widerstehen, sie zu übertre-
ten. Er, der früher der
ruhigste der Bürger gewesen
war, war jetzt stadtbekannt
wegen seiner Unbotmäßig-
keit. Strafmandats regneten
auf ihn herab, und in seinem
Hause gingen jetzt die Schutz-
leute aus und ein wie im
Polizeipräsidium. Herr Ka-
nisper konnte seine Leiden-
schaft nicht mehr bezähmen.

Er litt unter den Verboten
unsäglich. Er fühlte, daß es
kein gutes Ende mit ihm
nehmen würde, er würde im
Zuchthaus enden oder am
Galgen.

Er hatte keine ruhige Mi-
nute mehr. Nur im Schlaf
fand er manchmal noch
Frieden. Da tauchte das
schöne Traumbild einer Insel
vor ihm auf, die für ihn
das Paradies bedeutete.
Ueberall standen da Tafeln -
mit freundlichen Aufforde-
rungen: „Es wird gebeten,
die Schuhe nicht zu reini-
gen, auf den Boden zu
spucken und alles zu be-
tasten." „Lassen Sie Ihren
Hund doch frei herumlau-
fen." „Berauben Sie sich
nicht des Vergnügens, die
Gleise' zu überschreiten."
„Wir bitten, die eingefriede-
ten Rasenflächen zu betre-
ten." Ein Lächeln verklärte
dann Herrn Kanispers Züge.

Auf diese Insel seiner
Träume ist Kanisper wohl
nach seinem Tode versetzt
worden. Eines Morgens
fand man ihn tot auf dem
Sofa liegen, vom Schlage
getroffen. In der Hand hielt
er ein Zeitungsblatt; darin
stand geschrieben:

„Es gibt siebenhundert-
achtzigtausend verschiedene
Polizeivorschriften".

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Josef Geis: Wasserpolizei
 
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