Dr. Wende stand noch immer. Er schritt !m Atelier auf und nieder
und blieb in der Ecke stehen, wo Lichtbilder seine Aufmerksamkeit fesselten.
Eines betrachtete er besonders eindringlich: Wladimir und Olga im
Brautbild? Sie waren doch nicht verehelicht gewesen?
Kanzoffs Blicke verfolgten den Gast. Er fühlte Dr. Wendes Ver-
wunderung und empfand mit einem Male das Bedürfnis, zu reden.
Das Wort ist ja Tröster und es besänftigt den Schmerz, betäubt ihn.
Wladimir erhob sich und trat hinter den Fremden: „Das da ist,
was von ihr übrig blieb", sagte er still, indem er auf die Bilder wies,
die Olga in vielen Lebensaltern darstellten.
„Wir alle haben sie für Ihre Schwester gehalten, Wladimir Kanzoff?"
sagte der Deutsche.
„Sie war meine Schwester und meine Gattin und meine Freundin.
Und war doch nichts von allem. Wie aber können Sie begreifen, was
sie mir alles war, fünfunddreißig Jahre hindurch?"
Sie ließen sich in der Sofaecke nieder, und der Dichter begann zu
erzählen. Aus der Tiefe kamen ihm die Worte, wehes Gefühl trieb
sie hoch, der Toten eine Gedächtnisfeier zu halten:
Der alte Mann hielt inne. Er machte ein paar Schritte und blickte
durch die großen Atelierfenster auf die Berge, denen das Abendrot gerade
den Krönungsmantel umlegte. Dann fuhr er fort:
„Als ich größer wurde, durfte ich am Unterrichte teilnehmen, den die
Pariser Mademoiselle, ein deutscher Philologe und der russische Lehrer der
Herrschaftstochter erteilten. Der Herr, der nach dem frühen Tode seiner
Gattin nur selten daheim war und in Petersburg ein vergnügtes Leben
führte, entfremdete sich in dieser Zeit seinem Kinde immer mehr, und
so fand Olga an mir allein den Halt des Vertrauens, und wir schlossen
uns, auch in geistigen Interessen einander nahe, immer enger aneinander.
So wuchsen wir auf.
Als Olga siebzehn Jahre alt war, kam ihr Vater zu schnellem Besuche
Er sprach seine Absicht aus, Olga nun ins Ausland zu senden. Sie
sollte sich in einer Genfer Pension den Schliff der mitteleuropäischen
Bildung aneignen. Ob sie nicht froh darüber sei? Olga nickte. Aber,
als wir allein waren, streichelte sie meine Hand, und die Tränen
kamen ihr jäh: „Wladimir . . . ganz allein . . . ohne Wladimir . . ."
stammelte sie.
Was ist Ehe? Ein kurzer Rausch und ein langer Alltag. Aus
Liebe wird Haß oder — Gewohnheit. Was auch ist Freundschaft?
Ost nichts anderes als das gegenseitige Einverständnis, die Scham der
Seele preiszugeben! Alles wird Alltag, wenn nicht ein Geheimnis bleibt
vom Menschen zum Menschen. Gott hat den Irdischen ein Ideal ge-
schaffen. Wir nennen es das „Paradies". Und alle Glückseligkeit senken
wir in diesen Namen. Aber die Pforte ist verschlossen. Der Eingang
ist — verboten! Aber wir dürfen den Duft der Gärten ahnen, die
hinter der Pforte ihre Pracht entfalten, und köstliche Früchte, die wir
nicht zu greifen vermögen, werden unserm Auge ficrjtbar. Sehen Sie,
mein Freund, auch in den Beziehungen der Menschen zueinander muß
es ein Verborgenes, nur Geahntes, Köstliches geben. Denn immer nur
ist es die Sehnsucht, die Dauer hat auf dieser Welt.
Mein Vater, Herr, war Bauer. Als Kleinpächter des Gutsherrn
Balnikow baute er sein Feld, fleißig und in Demut vor seinem mächtigen
Herrn. Er war ein schöner, strenger Mann, der Fjodor Balnikow, und
er hatte das feurige Blut seiner Mutter, einer Großen aus dem Ungarn-
land, die er gegen den Willen ihrer Eltern heimgeführt. Olga glich
ihrer Großmutter. Dort oben, die
kleine Miniatur, das ist ein Jugend-
bild von Mütterchen Jlonka Balnikow.
Ich, des Bauern Konzoffs Einziger, wurde
öfters ins Herrenhaus befohlen, mit der
kleinen, mir gleichaltrigen Olga zu spielen.
Einmal — mir ist, als sei's heut ge-
wesen — hatte mir Olga, wie es Kinder
gern tun, eine Leine um die Schulter
gelegt: Wir spielten Pferdchen und
Kutscher. Sie schwang die Peitsche und
schlug damit in die Lust. „Schneller,
schneller!" rief sie. Da kam ihr Vater
in den Garten und lachte: „Du mußt
dein Pferdchen besser schlagen, mein
Täubchen. Gib mal. So!!" Und damit
versetzte er mir zwei mächtige Hiebe.
Teils aus Schreck, dann aber auch, weil
ich über die Steine der Boskett-Um-
zäununig stolperte, fiel ich nieder. Ich sah
durch Purpur, der vor meinen Augen
lag, wie der Herr lachend davon ging.
Aber der Schmerz schwand mir in un-
beschreiblichem Wohlgefühl: Zwei weiche,
weiße, sehr sachte Kinderhände höben
meinen Kops, und ein zartes Sümmchen
flüsterte: „Verzeih, Wladimir, Brüderchen,
Väterchen nicht bös gemeint."
Sie werden ahnen, daß damals eine
Liebe mir keimte, jene frühe, keusche
Flamme, wie sie das reifende Leben zu-
meist zum ersticken bringt. Mir aber ward
sie das Feuer einer Glut, die nie verlöschen
wird, solang ich atme."
Seicbaun§ von Josef Geis
„Sie, mit dem Kinderwagen fahren ist hier verboten!"
„Ich Hab' ja gar keinen. ."
„Aber Sie könnten demnächst da mit dem Kinderwagen
fahren — —!"
Fremder Mann, ich erzähle Ihnen nur, was Sie sich selber aue-
rechnen können. Addieren Sie zweimal Jugend und Einsamkeit, gleiche
Wünsche und gleiche Sehnsucht und das Resultat wird immer nur
„Liebe" sein. Und Sie werden den jungen Mann kennen, der täglich
gegen vier an der Gartenmauer stand, die das Genfer Pensionat ab-
schloß, der in Liebesbriefen Geständnisse machte, die er in den vielen
Jahren der gemeinsamen Erziehung nicht gewagt, und der, als dem
Buche, das er um den Namen und für das Herz der Geliebten geschrieben,
unerwarteter Erfolg beschieden war, der zwanzigjährigen Tochter seines
Herrn die Hand fürs Leben anbot.
Olga Balnikowas Antwort war, „immer Dein, in Glück und Not"
Sie schrieb, ihrem Vater. Seine Antwort war Hohn und Wut. Wir
hatten nichts anderes erwartet. Der Termin der Hochzeit wurde be-
stimmt. Da aber kam etwas, das mir zeigte, wie alle Legende ewig
ist und ewig wiederkehrend in ihrem Sinn: Der Gutsherr erwiderte
auf Olgas Bekenntnis ihrer unverbrüchlichen Liebe zu mir: „Marja
Kanzoff, das Weib meines Knechtes, ist meine Geliebte gewesen. Willst
du die Frau deines Bruders werden...?"
Da war es ... das Paradies ...
und seine verbotene Pforte. Ich
Olgas Bruder? Ich kontrollierte mein
Gefühl.... es war Liebe .... —
Liebe war Olgas Kuß. Aber als
ich mein Gesicht betrachtete und, es zer-
gliedernd, dem Bilde Olgas entgegenhielt,
da glaubte ich gleiche Linien zu finden.
Und als wir an diesem Abend über all
unsere Pläne sprachen, da erkannte ich
den Schatten des Oedipus und spürte
fröstelnd die Schauer der Erynnien...
Wir haben die Ehe nicht geschlossen.
Wir liebten uns und waren Geschwister.
Waren Geschwister und doch Freunde:
Geschwister, Liebende und Freunde — es
ist viel Glück für zwei Menschen. Und
nur dadurch wurde dieses Glück möglich,
weil stets ein Letztes, Verschleiertes, Ge-
heimes es vor dem Schicksal bewahrte,
alltäglich zu werden, jene Gewohnheit,
an der alles stirbt: die Freundschaft und
die Liebe . . . Begreifen Sie nun, daß
die Welt für mich heute leer geworden
ist . . . ?"
Der alte Mann schwieg. Er setzte sich
wieder in den Lehnstuhl am Fenster, durch
das tiefblauer Abend flutete. Als er nun
wieder sprach, klang seine Stimme ganz
fern, wie durch Schleier:
„Seltsam ist das Glück des verbotenen
Glückes! Um wieviel holder wär das
Leben, wenn alle Menschen mehr von der
Sehnsucht wüßten . . ."
610
und blieb in der Ecke stehen, wo Lichtbilder seine Aufmerksamkeit fesselten.
Eines betrachtete er besonders eindringlich: Wladimir und Olga im
Brautbild? Sie waren doch nicht verehelicht gewesen?
Kanzoffs Blicke verfolgten den Gast. Er fühlte Dr. Wendes Ver-
wunderung und empfand mit einem Male das Bedürfnis, zu reden.
Das Wort ist ja Tröster und es besänftigt den Schmerz, betäubt ihn.
Wladimir erhob sich und trat hinter den Fremden: „Das da ist,
was von ihr übrig blieb", sagte er still, indem er auf die Bilder wies,
die Olga in vielen Lebensaltern darstellten.
„Wir alle haben sie für Ihre Schwester gehalten, Wladimir Kanzoff?"
sagte der Deutsche.
„Sie war meine Schwester und meine Gattin und meine Freundin.
Und war doch nichts von allem. Wie aber können Sie begreifen, was
sie mir alles war, fünfunddreißig Jahre hindurch?"
Sie ließen sich in der Sofaecke nieder, und der Dichter begann zu
erzählen. Aus der Tiefe kamen ihm die Worte, wehes Gefühl trieb
sie hoch, der Toten eine Gedächtnisfeier zu halten:
Der alte Mann hielt inne. Er machte ein paar Schritte und blickte
durch die großen Atelierfenster auf die Berge, denen das Abendrot gerade
den Krönungsmantel umlegte. Dann fuhr er fort:
„Als ich größer wurde, durfte ich am Unterrichte teilnehmen, den die
Pariser Mademoiselle, ein deutscher Philologe und der russische Lehrer der
Herrschaftstochter erteilten. Der Herr, der nach dem frühen Tode seiner
Gattin nur selten daheim war und in Petersburg ein vergnügtes Leben
führte, entfremdete sich in dieser Zeit seinem Kinde immer mehr, und
so fand Olga an mir allein den Halt des Vertrauens, und wir schlossen
uns, auch in geistigen Interessen einander nahe, immer enger aneinander.
So wuchsen wir auf.
Als Olga siebzehn Jahre alt war, kam ihr Vater zu schnellem Besuche
Er sprach seine Absicht aus, Olga nun ins Ausland zu senden. Sie
sollte sich in einer Genfer Pension den Schliff der mitteleuropäischen
Bildung aneignen. Ob sie nicht froh darüber sei? Olga nickte. Aber,
als wir allein waren, streichelte sie meine Hand, und die Tränen
kamen ihr jäh: „Wladimir . . . ganz allein . . . ohne Wladimir . . ."
stammelte sie.
Was ist Ehe? Ein kurzer Rausch und ein langer Alltag. Aus
Liebe wird Haß oder — Gewohnheit. Was auch ist Freundschaft?
Ost nichts anderes als das gegenseitige Einverständnis, die Scham der
Seele preiszugeben! Alles wird Alltag, wenn nicht ein Geheimnis bleibt
vom Menschen zum Menschen. Gott hat den Irdischen ein Ideal ge-
schaffen. Wir nennen es das „Paradies". Und alle Glückseligkeit senken
wir in diesen Namen. Aber die Pforte ist verschlossen. Der Eingang
ist — verboten! Aber wir dürfen den Duft der Gärten ahnen, die
hinter der Pforte ihre Pracht entfalten, und köstliche Früchte, die wir
nicht zu greifen vermögen, werden unserm Auge ficrjtbar. Sehen Sie,
mein Freund, auch in den Beziehungen der Menschen zueinander muß
es ein Verborgenes, nur Geahntes, Köstliches geben. Denn immer nur
ist es die Sehnsucht, die Dauer hat auf dieser Welt.
Mein Vater, Herr, war Bauer. Als Kleinpächter des Gutsherrn
Balnikow baute er sein Feld, fleißig und in Demut vor seinem mächtigen
Herrn. Er war ein schöner, strenger Mann, der Fjodor Balnikow, und
er hatte das feurige Blut seiner Mutter, einer Großen aus dem Ungarn-
land, die er gegen den Willen ihrer Eltern heimgeführt. Olga glich
ihrer Großmutter. Dort oben, die
kleine Miniatur, das ist ein Jugend-
bild von Mütterchen Jlonka Balnikow.
Ich, des Bauern Konzoffs Einziger, wurde
öfters ins Herrenhaus befohlen, mit der
kleinen, mir gleichaltrigen Olga zu spielen.
Einmal — mir ist, als sei's heut ge-
wesen — hatte mir Olga, wie es Kinder
gern tun, eine Leine um die Schulter
gelegt: Wir spielten Pferdchen und
Kutscher. Sie schwang die Peitsche und
schlug damit in die Lust. „Schneller,
schneller!" rief sie. Da kam ihr Vater
in den Garten und lachte: „Du mußt
dein Pferdchen besser schlagen, mein
Täubchen. Gib mal. So!!" Und damit
versetzte er mir zwei mächtige Hiebe.
Teils aus Schreck, dann aber auch, weil
ich über die Steine der Boskett-Um-
zäununig stolperte, fiel ich nieder. Ich sah
durch Purpur, der vor meinen Augen
lag, wie der Herr lachend davon ging.
Aber der Schmerz schwand mir in un-
beschreiblichem Wohlgefühl: Zwei weiche,
weiße, sehr sachte Kinderhände höben
meinen Kops, und ein zartes Sümmchen
flüsterte: „Verzeih, Wladimir, Brüderchen,
Väterchen nicht bös gemeint."
Sie werden ahnen, daß damals eine
Liebe mir keimte, jene frühe, keusche
Flamme, wie sie das reifende Leben zu-
meist zum ersticken bringt. Mir aber ward
sie das Feuer einer Glut, die nie verlöschen
wird, solang ich atme."
Seicbaun§ von Josef Geis
„Sie, mit dem Kinderwagen fahren ist hier verboten!"
„Ich Hab' ja gar keinen. ."
„Aber Sie könnten demnächst da mit dem Kinderwagen
fahren — —!"
Fremder Mann, ich erzähle Ihnen nur, was Sie sich selber aue-
rechnen können. Addieren Sie zweimal Jugend und Einsamkeit, gleiche
Wünsche und gleiche Sehnsucht und das Resultat wird immer nur
„Liebe" sein. Und Sie werden den jungen Mann kennen, der täglich
gegen vier an der Gartenmauer stand, die das Genfer Pensionat ab-
schloß, der in Liebesbriefen Geständnisse machte, die er in den vielen
Jahren der gemeinsamen Erziehung nicht gewagt, und der, als dem
Buche, das er um den Namen und für das Herz der Geliebten geschrieben,
unerwarteter Erfolg beschieden war, der zwanzigjährigen Tochter seines
Herrn die Hand fürs Leben anbot.
Olga Balnikowas Antwort war, „immer Dein, in Glück und Not"
Sie schrieb, ihrem Vater. Seine Antwort war Hohn und Wut. Wir
hatten nichts anderes erwartet. Der Termin der Hochzeit wurde be-
stimmt. Da aber kam etwas, das mir zeigte, wie alle Legende ewig
ist und ewig wiederkehrend in ihrem Sinn: Der Gutsherr erwiderte
auf Olgas Bekenntnis ihrer unverbrüchlichen Liebe zu mir: „Marja
Kanzoff, das Weib meines Knechtes, ist meine Geliebte gewesen. Willst
du die Frau deines Bruders werden...?"
Da war es ... das Paradies ...
und seine verbotene Pforte. Ich
Olgas Bruder? Ich kontrollierte mein
Gefühl.... es war Liebe .... —
Liebe war Olgas Kuß. Aber als
ich mein Gesicht betrachtete und, es zer-
gliedernd, dem Bilde Olgas entgegenhielt,
da glaubte ich gleiche Linien zu finden.
Und als wir an diesem Abend über all
unsere Pläne sprachen, da erkannte ich
den Schatten des Oedipus und spürte
fröstelnd die Schauer der Erynnien...
Wir haben die Ehe nicht geschlossen.
Wir liebten uns und waren Geschwister.
Waren Geschwister und doch Freunde:
Geschwister, Liebende und Freunde — es
ist viel Glück für zwei Menschen. Und
nur dadurch wurde dieses Glück möglich,
weil stets ein Letztes, Verschleiertes, Ge-
heimes es vor dem Schicksal bewahrte,
alltäglich zu werden, jene Gewohnheit,
an der alles stirbt: die Freundschaft und
die Liebe . . . Begreifen Sie nun, daß
die Welt für mich heute leer geworden
ist . . . ?"
Der alte Mann schwieg. Er setzte sich
wieder in den Lehnstuhl am Fenster, durch
das tiefblauer Abend flutete. Als er nun
wieder sprach, klang seine Stimme ganz
fern, wie durch Schleier:
„Seltsam ist das Glück des verbotenen
Glückes! Um wieviel holder wär das
Leben, wenn alle Menschen mehr von der
Sehnsucht wüßten . . ."
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