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EDITH

Son Beda Hasen

Edith war das sprödeste Mitglied des hochalpinen SkiksubS „Die
Gcnisen", dianenhaft gewachsen und unnahbar, wie die Gemse selbst.
Aber ihre Unnahbarkeit bestand nicht etwa in der Scheu und Welt-
stucht dieses Tieres, sie war vielmehr das Ergebnis ihres konsequenten
und energischen Abwehrwillenö: sie war aktiver Natur. Kein Jüng-
ling und kein Mann konnte sich rühmen, je in „Tuchfühlung" mit ihr
gekommen zu sein, eS sei denn in überfüllten Fahrzeugen des östent-
lichen Verkehrs. Nut dem gleichen Erfolge wußte sie sich aber auch
die zärtliche Zudringlichkeit ihrer Geschlechtsgenossinnen vom Halse zu
halten. Und wenn sie einer Frau oder einem Mann die Hand drückte,
geschah dies in einem Abstand von nahezu einem Meter.

Ediths Antlitz konnte zu Stein werden, gebieterisch-drohend und
eiskalt, wenn jemand mehr wagte, als er wagen durste.

Trotzdem wagte eS Hans, sie zu einer einwöchentlichen Skitour im
Karivendelgebiet einzuladen. Statt der erwarteten Absage erwiderte
sie ohne Zögern: „Wenn es dir Spaß macht" — die Klubmitglieder
duzten sich — „bin ich zu allen Schandtaten bereit, vorausgesetzt, daß
du Abstand halten kannst."

Und Hans hatte bisher immer noch Abstand gehalten. Aber diesmal
hatte er seine eigenen Pläne: sssn
die tiefste Einsamkeit wollte er
das Mädel führen, fernab von
jeder bewohnten Hütte und un-
gesehen von den Sportgenossen
und -Genossinnen, um ihr um so
näher sein zu können.

Er hatte den größten Rucksack
ausgewählt, den er neben den
nötigen Lebensmitteln für die
Wochentour mit Leckerbissen er-
denklichster Art ansüllte, in der
Absicht, dem geliebten Mädel das
Zusammensein niit ihm so an-
genehm wie möglich zu machen
und die Erinnerung an die ge-
meinsame Tour in ihm für lange
Zeiten wachzuhalten. Seiner fajt
athletischen Gestalt konnte Hans
jede Last und Arbeit zumuten!

Nach beendigter Bahnfahrt
durchmaßen die zwei im Langlauf
das Tal bis zum Anstieg, Hans
voraus, Edith ihm auf hundert
Schritte Distanz folgend. Dann
banden sie ihre Seehundsfelle
unter die langen Sohlen ihrer
Hölzer und stiegen den Skiberg
an, auf dessen Ostseite fast am
Fuße eine einsame Hütte lag, m

der das Paar die Nächte der laufenden Woche zubringen wollte.

Nach stundenlangem, schwierigem Anstieg in ständigen Zickzacklinien
hatten sie nahezu den Gipfel erreicht, alö sich das klnhcil vorbereitete.
An Ediths rechtem Hickory ivar dag Seehundsfell locker geworden und
schleppte nach. Ihr Fuß kam iiüü Rutschen. Aber beim Versuch,
das Gleichgewicht herzustellen, stürzte sie, glitt im leichten Pulverschnee
auf Harscht, den Kops voran, ungefähr hundert Meter den Steilhang
hinunter, sich mehrfach überschlagend an teils nackten, teils unbedeckten
Gesteinsvorsprüngen und landete mit zerbrochenen Hölzern in einer
Mulde.

Während des ganzen Vorgangs hatte Edith keinen Laut von sich
gegeben, so ungctvöhnlich war ihre Tapferkeit und Selbstbeherrschung.

Aber Hans hatte das verdächtige Geräusch gehört, drehte sich mit
einen, kurzen Aufschrei um, umging in aufrechter Schußfahrt den
gefährlichen Steilhang und sah dann Edith in bös zugerichtetem Sport-
kostüm im weißen Schneebett liegen, das von einigen Blutkropfen
gerötet war.

Ediths Zähne knirschten. Hans hob sie auf. Aber beim Versuch, zu
stehen, zitterten ihre Beine. Sie machte einige Schritte, um sestzustellen,

daß nichts gebrochen war. Man
sah ihr an, daß sie Schmerzen
hatte, aber sie redete nicht. Die
Stöcke hatte sie verloren, die
Wvllmütze war abgestreist wor-
den. Hans löste die traurigen
lleberreste der ehemaligen Skier
von Ediths Schuhen. Ein scharfer
Westwind Hub an, ihnen Kristall-
schnee in'ö Gesicht zu werfen.
Rasch entschlossen beugte Hans
sich nieder, und ehe Edith sich Ver-
sal,, saß sie auf seinem Nacken,
zwischen Hansens Haupt und
Hansens hohem Rucksack einge-
klemmt. 2(1)« fast nackten Beine
preßten sich an seine Wangen.

Hanö setzte zur Schußfahrt
an. Aber da nun sein Leib in
Verbindung mit der Nacken-
rciterin uni mehr als 70 Zenti-
meter gewachsen war, hätte er
auch seine Hölzer verlängern
müssen, um gegen einen Sturz
gefeit zu sein. Ohne die Schuß-
fahrt zu unterbrechen, ließ sich
Hanö in Hocke fallen und sauste
breitspurig talab. Da fühlte er
des Mädchens eiskalte Knie. In,
Schneesturm vibrierte der Körper

Am Krcuzcck E. Hrnel

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Edwin Hermann Henel: Am Kreuzeck
Beda Hafen: Edith
 
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