Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Ein Engel erscheint den Hirten

Zeichnung von R. t>. Hoerschelmann

Männerabteilung während der Feier spielte, lind sie sangen leise mit . . .

lind da! Auch sie begannen mit Maria ihre Arme zu wiegen . . . Das
Jesulein war an jedes Bett gekommen. Jegliche dieser Armen im Geiste suhlte
das Kindlcin auf ihrem Arm sitzen . . .

llud da die Schwester Olge besorgt durch deu Saal huschte, wurde das
Weiße ihrer Haube zu wehenden Engclsflügeln. Wind ging durch die Fenster
. . . Alle empfanden den Duft von Weihrauch und Myrrhe. Es war, als
wäre der Krankensaal zu einem Hochaltar emporgewachsen . . .

Eine Hysterische sprang aus dem Bett und rief: „Schaut in den Himmel,
da fehlt eine Person der heiligen Dreifaltigkeit . . .!"

„Ja, sie sitzt auf meinem Arm . . .!" „lind auch auf meinem . . .!"

„Alle sollen aufstchcn und vor Gottes Thron gehen . . .!"

„Laßt uns das Kindlein wie—icgcn . .

„Das Herz zum Kripplcin die—iegen . . Und das Singen und Summen
wuchs zum Choral an. Alle küßten sich die Hände, auf denen die Jesulein
lagen . . . Einige legten ihn, ihre rotbackigen Aepfcl hin, andere wollten ihre
Knäblein mit Bromtabletten ernähren . . . Und die Blitzdichtcrin zerriß ihr
Laken, um Windeln für das heilige Kind zu haben . . .

Das losgelöste Schreien ging durch die Wände und wurde alsbald auch von
den Insassen der anderen Säle ausgenommen. Das Jesusknäblein schwebte
durch die verschlossenen Türen ... bis ins Toben des Dauerbades hinunter.
»Induziertes Irresein" diagnostizierte der Assistenzarzt atemlos vor sich hin.

Die Schwestern rannten mit Kompressen von Bett zu Bett. Man gab
Mapimaldvsen, aber nichts half. Es gab nichts, das hier noch helfen wollte.
Es wurde vergessen, die Türen hinter sich abzuschließcn . . . lind die Kranken
durchliefen die Säle wie D-Züge.

Bald gab cs kaum einen Raum mehr, in dem nicht das Jesulein mit
Wiein-n d Eiapopciasingcn cingckchrt wäre. Ucbcrall war cs noch einmal
geworden — aber diesmal bis in den tiefsten Urgrund der Seele

hinab. Und alle umarmten sich, küßten sich und nannten sich Bruder und
Schwester.

Es war Morgen geworden, bis cs den Acrzten und dem Pstegepersonal
gelang, die von der Schneiderin Maria beeinflußten Kranken in einzelnen
Räumen zu isolieren. Maria fand man mit glasigen Augen auf den Stufen
zum Heizraum sitzend, da der Morgen schon über den frischgepulverken Schnee
an die Fenster kam.

Don allen übrigen Kranken war von Stunde zu Stunde immer mehr das
Jesulein vom wiegenden Arm abgeglikten und vergessen worden.

Maria aber fühlte die gewichtlosc Fracht auch den Tag über noch auf ihre
Hand gesetzt. Sie gab ihm Süppchen und Brot und winkte und lachte mit ihn,.

Nachmittags bekam Maria Besuch. Sie sagte zur Pflegerin, daß cs der
Engel des Herrn sein werde.

Aber vor der Tür stand der Buchbinder vom vierten Stock, der mit der
Schneiderin lMaria Zimmer an Zimmer gewohnt hatte. Doni Wachtmeister
hatte er über die Geliebte alles erzählt bekommen.

Jetzt drehte er den Rand seines Hutes zwischen den Fingern hin und her
und fand kein Wort, das er ihr hätte sagen können. Aus der Tasche zog er
eine lackierte Haarspange, ein Brenneisen und zwei Paar Schuhlitzen.

Sie aber streichelte sein Haar und hob ihre Lippen nahe, an sein Ohr:
„Uns ijt ein Kind geboren . . .!"

Da lächelte er wie einer, der noch an Wunder glauben kann und trat für
einen Augenblick lang in den Bann ihrer wirren Freude. Und so, daß er voll
Gnade und Demut nach ihrem Munde suchte, der halb küssend, halb singend
in ihn hinein summte:

„La—aßt uns dag Kindlein wie—icgcn! „Es ist nicht dein, cs ist nicht mein

Es ist dag goldnc Jesulein . . .! Eia popcia . . .!"

Und schon schritt Maria in ihre Kammer zurück. Und er nahm voll Weh-
mut wle Christbaumschmuck die silbernen Fäden einer heimlichen Freude von
seiner Seele ab . . .

1007
Register
Rolf v. Hoerschelmann: Ein Engel erscheint den Hirten
 
Annotationen