3 I- Jahrgang
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DIE ZWEITE STIMME
Ton 3 o h. W. Brocdclet
Berechtigte llcbcrsctzung n u s d e in Holländischen von Willy Bloch ert
Wild jagte der Wind über das schutzlos daliegende Harlingen, das
wegzuwehen drohte unter den wütenden Angriffen des großmäuligen
Tyrannen. Die Bäume fröstelten in ihrem kahlen Spätherbstkleid und
schüttelten eigensinnig das Haupt. Windstöße trieben die Menschen von
selbst die schiesgetreteuen Stufen zu den Häusern hinaus, und es pfiff
nur so durch die Lüfte, als ob das unsinnige Toben vorerst kein Ende
nehmen wollte.
Jakob jedoch, mit seinen langen Beinen und breiten Schultern,
stapfte mitten durch den Tumult wie der Märchenriese mit den Sieben-
meilenstiefelu. Im Winde war er geboren und ausgewachsen. Ohne das
Rumoren um seinen Kopf fehlte ihm etwas. Und um Widerstand,
auch wenn er von allen Seiten zugleich kam, gab er nichts. Er war
kein Wickelkind, lachte über jeden Windstoß. Es war doch nur Kinderei
im Vergleich zu dem, was manchmal auf See in seine Jacke blieS.
Aber selbst wenn eö so gestürmt hätte, daß die Ziegelsteine wie
Vögel durch die Lust gestogen und die Aushängeschilder, die sich jetzt
schon gefährlich wild gebürdeten, wie geharnischte Ritter durch die
Straßen spaziert wären, dann noch hätte ihn das nicht angefochten.
Denn was bedeutete all das Blasen und Toben und Stöhnen gegen
den Sturm, der in seinem Innersten alles durcheinander warf! Nicht
ein Schornstein in seinem Gemüt stand mehr wagrecht. Die Leiden-
schaften richteten dort mehr Verwüstung an als die Elemente draußen.
Ohne es selbst recht zu wissen, schlug er am inneren Ouai eine
Seitenstraße ein, lies durch mehrere Gassen, kam an den Außenwall,
verschwand wieder in einer Gasse und stand schließlich vor dem Gast-
haus „Zum Meerweibchen", das ihn anzog wie ein Magnet. „So n
Weib, so'n Weib!" murmelte er, ctlvaö beschämt über seine eigene
Schwäche. Dann ging er hinein und, den Weg mühsam suchend,
polterte er die Wendeltreppe nach dem Keller hinab. Unten wanderten
seine Augen umher. Und als sie gefunden hatten, was sie suchten, sagte
er mit freundlichem Brummen: „Tonia".
Tonia, hinter dem bauchigen Schanktisch, in den sie genau hinein-
paßte, wandte einen Augenblick ihre Aufmerksamkeit ab von dem
wollenen Strumpf, an dem sie stopfte, und sagte: „Jakob", weiter
nichts. Dann nahm sie ihre Arbeit wieder auf.
Jakob, an die geringe Gesprächigkeit gewöhnt — auch er tat mit
einem Wort ab, wofür zwei nicht nötig waren —, wartete nicht auf
ein herzlicheres Willkommen. Er sah umher, stopfte seine Pfeife, zog
den Rauch ein und ließ sich dann mit seiner ganzen Plumpheit auf
einem Stuhl nieder, der unter so starker Belastung stöhnte.
Jedesmal, wenn die Rauchwolken, die er wie ein Schornstein aus-
stieß, etwas wegzogen, schielte Jakob heimlich nach Tonia, die sich
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DIE ZWEITE STIMME
Ton 3 o h. W. Brocdclet
Berechtigte llcbcrsctzung n u s d e in Holländischen von Willy Bloch ert
Wild jagte der Wind über das schutzlos daliegende Harlingen, das
wegzuwehen drohte unter den wütenden Angriffen des großmäuligen
Tyrannen. Die Bäume fröstelten in ihrem kahlen Spätherbstkleid und
schüttelten eigensinnig das Haupt. Windstöße trieben die Menschen von
selbst die schiesgetreteuen Stufen zu den Häusern hinaus, und es pfiff
nur so durch die Lüfte, als ob das unsinnige Toben vorerst kein Ende
nehmen wollte.
Jakob jedoch, mit seinen langen Beinen und breiten Schultern,
stapfte mitten durch den Tumult wie der Märchenriese mit den Sieben-
meilenstiefelu. Im Winde war er geboren und ausgewachsen. Ohne das
Rumoren um seinen Kopf fehlte ihm etwas. Und um Widerstand,
auch wenn er von allen Seiten zugleich kam, gab er nichts. Er war
kein Wickelkind, lachte über jeden Windstoß. Es war doch nur Kinderei
im Vergleich zu dem, was manchmal auf See in seine Jacke blieS.
Aber selbst wenn eö so gestürmt hätte, daß die Ziegelsteine wie
Vögel durch die Lust gestogen und die Aushängeschilder, die sich jetzt
schon gefährlich wild gebürdeten, wie geharnischte Ritter durch die
Straßen spaziert wären, dann noch hätte ihn das nicht angefochten.
Denn was bedeutete all das Blasen und Toben und Stöhnen gegen
den Sturm, der in seinem Innersten alles durcheinander warf! Nicht
ein Schornstein in seinem Gemüt stand mehr wagrecht. Die Leiden-
schaften richteten dort mehr Verwüstung an als die Elemente draußen.
Ohne es selbst recht zu wissen, schlug er am inneren Ouai eine
Seitenstraße ein, lies durch mehrere Gassen, kam an den Außenwall,
verschwand wieder in einer Gasse und stand schließlich vor dem Gast-
haus „Zum Meerweibchen", das ihn anzog wie ein Magnet. „So n
Weib, so'n Weib!" murmelte er, ctlvaö beschämt über seine eigene
Schwäche. Dann ging er hinein und, den Weg mühsam suchend,
polterte er die Wendeltreppe nach dem Keller hinab. Unten wanderten
seine Augen umher. Und als sie gefunden hatten, was sie suchten, sagte
er mit freundlichem Brummen: „Tonia".
Tonia, hinter dem bauchigen Schanktisch, in den sie genau hinein-
paßte, wandte einen Augenblick ihre Aufmerksamkeit ab von dem
wollenen Strumpf, an dem sie stopfte, und sagte: „Jakob", weiter
nichts. Dann nahm sie ihre Arbeit wieder auf.
Jakob, an die geringe Gesprächigkeit gewöhnt — auch er tat mit
einem Wort ab, wofür zwei nicht nötig waren —, wartete nicht auf
ein herzlicheres Willkommen. Er sah umher, stopfte seine Pfeife, zog
den Rauch ein und ließ sich dann mit seiner ganzen Plumpheit auf
einem Stuhl nieder, der unter so starker Belastung stöhnte.
Jedesmal, wenn die Rauchwolken, die er wie ein Schornstein aus-
stieß, etwas wegzogen, schielte Jakob heimlich nach Tonia, die sich
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