Neunzehn hundertsiebenundzwanzig Julius Diez
EINER LÄUFT SCHLITTSCHUH IN DER
SyLVESTERNACHT
B o u Reinhard Kocskcr
- ^ er Fluß schlingt sich rund um die cilte Stadt
if wie der Schweis eines guten Drachen, der sie
bewacht, Und die längste Zeit des Jahres
glänzt er auch goldbraun und grünlich wie
< schuppige Drachenhaut in der Sonne — uni
Ijc&ic Weihnacht aber ist die Kälte gekommen und
jyat die Haut erstarren gemacht und gebleicht,
ic^cccccc c t tcc?< haben sich tags fröhliche Kinder auf
dem Eise vergnügt bis der einbrechende Abend sie Vertrieben hat.
Jeßt liegt das schimmernde Band inenschenleer im Mondschein.
Denn iver konnte Lust verspüren, in der Sylvesternacht Schlittschuh
zu laufen? Der müßte niemand haben, der ihn hält oder zu sich
zieht — nicht Eltern noch Frau, nicht Freund noch Geliebte. Der
müßte sehr einsam sein und ohne Furcht vor seiner Einsamkeit, denn
anders würde er sich in die warmen Wirtsstuben siüchtcn, die Heimat
für Stunden Vortäuschen und sein inneres Frieren mit warmem
Wein zu umhüllen suchen.
Horch — klingt da nicht scharfer singender Don wie Gleiten von
Eisen auf Eis? Atmet die weiße Decke nicht leise schwankend unter
tviegendei» Druck wie in kristallenen Seufzern? Eö naht — sieh hin:
Einer läuft Schlittschuh in der Sylvesternacht!
Auf langen, niedrigen, scharfen Holländer-Schlittschuhen läuft er,
die Hände auf dem Rücken verschlungen, sich seitwärts abstoßend
mit weitausholender kräftiger Bewegung, den Kopf leicht zurück-
gelcgt und die Augen offen, aber ziellos blickend und lebensleer ivie
die eines Träumenden. Ein junger Mensch, sehnig und schlank —
und wäre doch einsam und ohne Furcht vor der Einsamkeit?
Rauhreis har die Zweige der Uferbäume silbrig beschivert, tief
hängen sie über den Fluß. Das fahle Gesicht des Mondes sieht groß
über der Stadt von wehenden Wolkenschleiern sanft verhangen.
Aus dem nächtlicken Dunst ragen die zackigen gotischen Türme
gespenstisch hoch.
Er i|{ der einzige Mensch in der Stille. Aber beleuchtete Fenster
sind überall — und nie sagen Fenster so viel von Menschen und
Menschengemeinsanikcit wie in der Sylvesternacht. Weihnacht ist
das Fest der Kinder und wer keine Kinder hat, kann eö nicht feiern.
Sylvester aber ist das Fest der Erinnerungen und es ist leichter, keine
Kinder zu haben als keine Erinnerungen. Alle Hände sind heute
reich im Bereitsein, das Schöne zu wünschen und das Häßliche ver-
gessend zu löschen. Süßer Duft von Gebäck und warmen gewürzten
Getränken liegt in den Straßen. Und das metallene Beben von
wartenden Glocken, die Wellen von Klang ausschütten wollen um
Mitternacht.
Leise klingt das Singen und Seufzen unter den eiligen Füßen.
Der Schlittschuhläufer legt tiefer den Kops in den Nacken — und
weitausholend stiegt er dahin. Spärlicher werden die Häuser und
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EINER LÄUFT SCHLITTSCHUH IN DER
SyLVESTERNACHT
B o u Reinhard Kocskcr
- ^ er Fluß schlingt sich rund um die cilte Stadt
if wie der Schweis eines guten Drachen, der sie
bewacht, Und die längste Zeit des Jahres
glänzt er auch goldbraun und grünlich wie
< schuppige Drachenhaut in der Sonne — uni
Ijc&ic Weihnacht aber ist die Kälte gekommen und
jyat die Haut erstarren gemacht und gebleicht,
ic^cccccc c t tcc?< haben sich tags fröhliche Kinder auf
dem Eise vergnügt bis der einbrechende Abend sie Vertrieben hat.
Jeßt liegt das schimmernde Band inenschenleer im Mondschein.
Denn iver konnte Lust verspüren, in der Sylvesternacht Schlittschuh
zu laufen? Der müßte niemand haben, der ihn hält oder zu sich
zieht — nicht Eltern noch Frau, nicht Freund noch Geliebte. Der
müßte sehr einsam sein und ohne Furcht vor seiner Einsamkeit, denn
anders würde er sich in die warmen Wirtsstuben siüchtcn, die Heimat
für Stunden Vortäuschen und sein inneres Frieren mit warmem
Wein zu umhüllen suchen.
Horch — klingt da nicht scharfer singender Don wie Gleiten von
Eisen auf Eis? Atmet die weiße Decke nicht leise schwankend unter
tviegendei» Druck wie in kristallenen Seufzern? Eö naht — sieh hin:
Einer läuft Schlittschuh in der Sylvesternacht!
Auf langen, niedrigen, scharfen Holländer-Schlittschuhen läuft er,
die Hände auf dem Rücken verschlungen, sich seitwärts abstoßend
mit weitausholender kräftiger Bewegung, den Kopf leicht zurück-
gelcgt und die Augen offen, aber ziellos blickend und lebensleer ivie
die eines Träumenden. Ein junger Mensch, sehnig und schlank —
und wäre doch einsam und ohne Furcht vor der Einsamkeit?
Rauhreis har die Zweige der Uferbäume silbrig beschivert, tief
hängen sie über den Fluß. Das fahle Gesicht des Mondes sieht groß
über der Stadt von wehenden Wolkenschleiern sanft verhangen.
Aus dem nächtlicken Dunst ragen die zackigen gotischen Türme
gespenstisch hoch.
Er i|{ der einzige Mensch in der Stille. Aber beleuchtete Fenster
sind überall — und nie sagen Fenster so viel von Menschen und
Menschengemeinsanikcit wie in der Sylvesternacht. Weihnacht ist
das Fest der Kinder und wer keine Kinder hat, kann eö nicht feiern.
Sylvester aber ist das Fest der Erinnerungen und es ist leichter, keine
Kinder zu haben als keine Erinnerungen. Alle Hände sind heute
reich im Bereitsein, das Schöne zu wünschen und das Häßliche ver-
gessend zu löschen. Süßer Duft von Gebäck und warmen gewürzten
Getränken liegt in den Straßen. Und das metallene Beben von
wartenden Glocken, die Wellen von Klang ausschütten wollen um
Mitternacht.
Leise klingt das Singen und Seufzen unter den eiligen Füßen.
Der Schlittschuhläufer legt tiefer den Kops in den Nacken — und
weitausholend stiegt er dahin. Spärlicher werden die Häuser und
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