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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 32.1927, Band 1-2 (Nr. 1-54)

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id) dcn Bahnhof verließ und einsam aus dem jugendvertrauten
V!vtze stand und kopsschüttelnd lächelte über den LInsinn der
plötzlichen Fahrt? Hast du mir — ins Ohr slüsternd — die
2uff erweckt, (Schlittschuh zu laufen in der Sylvcsternacht —

ZU gleiten — zu den „warmen Quellen" — zu dir —?

3a, lache, du kleine Liebliche: ich weiß, ich träumte das nur.

(§S i|f ja Sommer geworden. Fröhliche Menschen liegen aus
grünen Wiesen und singen, lachen, trinken und lieben! Wie
blind ich war! Komm laß uns alles vergessen und glücklich
sein! Warum siehst du mich ängstlich an? Ja, du hast recht:
geh heim — deine Mutter wartet auf dich. Verzeih mir,
armes verführtes Kind, ich war nicht zum Tode bereit, aber
zum Raub am Leben. Wozu das sagen? Eg ist zu spät —
für uns beide. Hör: Schön ist die Lüge des Lebens, mein
.lcind. — Schön ijt der Himmel, so blau und mit tausend
Sternen! Schön ist, dag du wieder bei mir bist, mein
Nöädchcn —. Sag nichts —- sei leise — wie leicht flieht die
Freude aus der Welt! Die Welt ist eines Weibes schwangerer
Bauch, der nie gebiert, der Samen sammelt in sich und sich
wölbt von den ^Möglichkeiten nie werdender Zukunft.

Und Freude ist ein flüchtiger, schöner Vogel, der immer im
Dusch lockt und sich nie fangen läßt. Ein listiger Vogel! Hörst
du, da lockt er! Siehst du, da flattert er! Und sein Gefieder
glänzt, daß man ihn nicht erkennen kann vor sprühendem Licht.

Laß! Du darfst ihn nicht fangen »vollen! Er stirbt im Käfg,

»vird grau und singt nicht mehr. Freue dich seines Glitzerns
— das Leben hat wenige helle Stunden — —

Leb wohl, ich muß gehen — strömen — gleiten — an
allein vorüber. Ich höre ein Lachen hell und silbern — das
lösende, ganz erlöste Lachen der Freude, die keinen Grund
des Lachens mehr kennt —. Sv will ich lachen — ich öffne
den Mund — ja: in tiefe Stille — in stille Tiefe — und nicht mehr
- gleiten — ruhen — ruhen — und mich meines Lachens freuen — —"

Es schneit. Ganz »veiß »vird die Welt. Auch die verwesungswarmen

Aecker erwehren ffch der schlveigenden Decke nicht mehr. Nur an den
„warmen Quellen" gähnt ein Loch —- schwarz und groß »vie ein Tor
in die Untcrivelt.

GESTOHLENE N

Von Emil Gradl

DAS

Dr. Wegsam blieb ain Bürgersteig stehen
»»nd begann zu zittern. Auch seine Kleidung
zitterte, die nicht ganz wohlgemessen ihm am
Leibe saß. Sein Blick »var an die gegenüber-

liegende Häuserfront geheftet. Gewiß, eö mußte
überraschen, »velchen Weg Rockstroh gemacht
hatte, der Kaufmann. Wie lange »var es her,
daß er als Gotscheer von Gaststätte zu Gast-
stätte zog, den Zechenden sein Säckchen darbot
mit den Nuiuinern, daß sie ihr Glück versuchten.
In seinem Korb, >»rn die rechte Schulter ge-
gürtet, lockten Zuckerinandeln als Preis und
gepreßte Prünellen, auch Telläpfel undPfeffer-
ininzen in seidenen Schatullen. Aber daö Glück
»var Rockstroh günffig, es beschützte ihn davor,
»nit vollen Händen aus seinein Korb abgeben
zu müssen. Und eines Tages inachte er sich an-
sässig, knüpfte reelle Verbindungen mit Kiel
an und mit dem Emmcnthal und eröffnete ein
Hauptbuch. Ueber die Tür hängte
er eine Holztafel, aus der zu lesen
»var: Christian Rockstroh, Fein-
kosthandlung.

Als es so weit war, legte er
sich eine Gesponsin bei, ein kleines,
appetitliches Frauenzimmer, das
Christians Werbung trotz seiner
von der Korbgurte etwas ver-
bogenen Schulter willig benicktc.
Sie war ihm hilfreich zur Hand,
»vog tags Rosinen aus und träumte
nachts von Konrad Deidt, dessen
Kinoschatten einst über ihre Puber-
tät gefallen.

Alles ging gut, Christian konnte Depeschen
abschicken wie diese: Fischjürgens Kiel liefert
prompt Kaffa hundert Kistchen Bücklinge pri-
miffima Fettsorte. Ein solcher Mann »var er
geworden.

Nun aber steht Dr. Wegsam auf der an-
dern Straßenseite und zittert. Wegsam ist ein
nicht ganz gesunder Mensch, ein Idealist. Beiin
Studium der germanistischen Wissenschaft ist
er in jungen Jahren aus einige Wort»vurzeln
gestoßen, die ihm nicht genügend bloßzuliegen
schienen, und diese Wortwurzeln sind bestimmend
für sein Leben geworden. Er ist Sprachgelchrter
aus Neigung.

An Christian Rockstrohs Feinkosthandlung
sind Veränderungen vorgegangen, sie besitzt
keinen Eingang mehr, sondern ein Portal. Es
ist ein Portal aus gerötellem Sandstein, von
einein Architekten entworfen, und entlang der
ganzen Front zieht sich eine Rieseninschrift hin:
„Delikatessen, Südfrüchten, Kolonialivaren."
Sonst nichts. Nur darunter noch, ganz klein,
da ihn ohnehin jedermann kennt: „Christian
Rockstroh".

Ja, daran wäre nun nichts Besonderes,
Christian ist kein Greisler mehr, der die vor-
rätigen Waren »nit Kreide anschreibt. Er läßt
verkünden, daß bei ihm Delikatessen, Südfrüchte
und Kolonialwaren zu haben sind, er uinfaßt
damit die genießbaren Kostbarkeiten der ganzen

Hanna Förster

7
Register
Hans Rewald: Pola Negri
Hanna Forster: Scherenschnitt
Emil Gradl: Das gestohlene N
 
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