Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 32.1927, Band 1-2 (Nr. 1-54)

DOI Heft:
Nr. 43
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.6659#0921
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
erwachsen, sie sind — verwachsen, sagt der Knabe Olaf, und ein böses
Lächeln zieht seinen Mund breit, und man kannte schon die Stellen
sehen, wo sich später die bösen Falten bilden werden, aber jetzt ist das
Fleisch seiner Wangen noch elastisch. Ihm nutzt das nicht. Sein Herz
ist welk. Sein Bewußtsein ist müde. Seine Träume sind hossnungsloS.
bind seine Gedanken klingend voll von Haß.

Olaf haßt seinen Dater. Der alte Mann, er hat schon 37 Jahre,
trägt einen gedankenlosen Schnurrbart, eine Brille, einen Strohhut,
viel zu helle Anzüge. Das gefällt Olaf nicht. Dem Knaben Olaf
gefällt dieser ganze Mann nicht. Wenn der Knabe im Zimmer sitzt,
über ein Buch gebückt, hört er, nebenan, das schmetternde Gelächter
jenes brutalen und — sinnlichen Menschen, der die Vokabel Vater
wie daS Lächeln eines falschen Gebisses trägt. Die moralische Kritik
der eigenen Kinder ist unbestechlich. Der Vater fühlt, daß er verachtet
wird und zahlt mit sogenannten Grundsätzen, zu deren Anwendung
ihn ein unverständliches Gesetz berechtigt.

Mehr: Olaf weiß, daß der Dater die Mutter betrügt. Er versteht
öaS nicht. Er hat genug Romane gelesen, um daS Wesen der Liebe
vollkommen zu verkennen. Aber seine Mutter, dünkt ihm, ist schön.
Sie ist gut. Sic liebt den Dater. Das ist ihre Aufgabe, und man kann
eö ihr nicht wehren. Es ist sogar nicht angängig, mit ihr darüber zu
reden. Obwohl man schon mehrmals Zeuge ihrer Tränen war.

Der Mann namens Dater bekundet, man weiß es, außerhalb des
Hauses einen gewöhnlichen, einen niederen Geschmack. Der Knabe
Olaf sah im Hinterzimmer einer Weinkneipe den Mann seiner Mutter
eine blonde Kellnerin ebenso tätscheln, wie dieser Mann zum Ekel des

Knaben danach die Mutter getätschelt. Olaf hatte dem Sohn des
Kneipenbesitzers, einem Schulkameraden, dafür seinen Lederball, zehn
Briefmarken und daS Buch „Reigen", dieses heimlich, überlassen.

Der Knabe Olaf hat dreimal die Geschichte vom Noah gelesen, wie
der berauscht war und einer seiner Söhne sich belustigte an der Nackt-
heit seines Vaters. Olaf kam von Tränen zu Haß, vom Haß zur
Verachtung, von der Verachtung zur Welkmüdigkeit. Er verstand das
Leben nicht mehr, und es gefiel ihm nicht mehr. Er wußte noch nicht,
daß es gang und gäbe unter Ncenschen ist, einander Unrecht zu tun
und eS so in der Ordnung zu finden.

Olaf ging von Haus zu Haus, von Straße zu Straße und dachte
erbittert nach. Er ertappte sich dabei, daß er schon geraume Zeit,
vielleicht eine Viertelstunde, vor dem dürftigen Fenster eines kleinen
Bäckerladens stand und die schlechtgebackenen schwarzen Brote und die
häßlichen Kuchen anstarrte, ohne sie wirklich zu sehen.

Er wollte aushören nachzudcnken und begann im Weitergchen ein
Spiel, daS darauf hinauslief, den Buchstaben A in allen Ladenschildern
der rechten Seite der Straße bis hundert zu zählen, dann B und so fort.
Aber unversehens geriet er wieder in die niederdrückenden Gedanken,
die ihn in der letzten Zeit verfolgten.

Er hatte beschlossen, sein Leben von Grund aus zu ändern. Er
fühlte, eö müsse sich jetzt in ihm entscheiden. Es gehe um alles.
Geringschätzig und voller Resignation dachte er an seine Träume, da
er noch jung war, acht oder neun Jahre etwa, Träume, die Welt
zu erobern wie Attila, oder einen sechsten Erdteil zu stnden wie Christof
Columbus, der Amerika, oder Jesus Christus, der den Erdteil der

(Besitzer Graphisches Kabinett, München, Bricnnerstraße)

899
Register
Konrad Westermayr: Die Alten
 
Annotationen