VValter Herzbere
Das Wunderkind
„W jeder nur Blumen und Kränze! Wann wird mir einer endlich mal ’n Schaukelpferd
auf die Bühne schmeißen?"
f)ch schämte mich meiner kindischen Abgelenkt-
heit und zwang mich wieder, dem Treiben ans
der Bühne zu folgen. Aber während dort oben
alles unter Flüstern und Seufzen einen stillen
Verlaus nahm, schreckte mich plötzlich ein schlag-
artiges Geräusch ans, dem ein unter diesen
ruhigen Verhältnissen widerliches Rasseln
fvlgte: dem diensttuenden Stadtpolizisten, der
in großer barocker Uniform unter der leeren
Königsloge stand, war der schwere Helm, den
er nach militärischer Sitte an der Spitze hielt,
aus der behandschuhten, lässigen Rechten ge-
glitten und einige Schritt weiter gerollt. Der
Mann blieb kerzengerade stehen — war er zu
müde, sich zu bücken? Hatte er gar nichts
gemerkt? War ihm alles gleichgültig? Nur
die drei Studenten im Stehparkctt drehten
schläfrig die Köpfe nach ihm um. Bald sollte
mir klar werden, was los war. Die Vor-
stellung begann von taktartigem Klopfen be-
gleitet zu werden, das in immer kürzeren Ab-
ständen wiederkehrte und von fallenden Hand-
täschchen und Operngläsern herrührte: mir
dämmerte, daß die Leute ringsum einschliefcn
und mir, wenn ich mir nur rechte Mühe gab
wachzubleiben, ein interessanteres Schauspiel
als das auf der Bühne bevorstand. Und in
der Tat: es dauerte nicht lange, so machte zu
den verschiedenen Raschel- und Klopfgeräuschen
ein dezentes Schnarchen den Generalbaß. Mein
für Sitte und Anstand empfindliches Gefühl
begann, sich für fünfhundert Seelen zu schämen
— was gewiß keine leichte Aufgabe ist —
und der Angstschweiß brach mir aus, als ich
an den anwesenden Autor dachte. Ich sah zu
seiner Loge hinüber und gewahrte, zu meiner
Beruhigung und zu noch erhöhtem Staunen,
daß Portioneö sich um sein Profil keine Mühe
mehr gab, sondern den Kopf aus die weiße
Hemdbrust hatte sinken lassen. Auch die Rosen
zu seiner Rechten und Linken schienen cin-
geschlafen; sie sahen in der Dämmerung wie
eine Märchcnhcckc aus. Meine Phantasie schien
von Angstschweiß befruchtet zu sein — aber
ihre Ausgeburten sollten von dem, was kam,
noch übertroffen werden. Eine Schauspielerin,
eine alte routinierte Person, hakte im Dialog,
verhaspelte sich und ihre Mitspieler in eine
Verwirrung, die sie in die Nähe des Souffleur-
kastens trieb; aber von da kam keine Hilfe:
ich merkte, daß der rote Faden, der sich von
dort üblicherweise in das Stück spult,ausgehört
hatte. Grandios, wie jetzt der geistesgegen-
wärtige Hauptdarsteller die Leere zu füllen
versuchte: mit weiten Fledermausgebärden
durchfurchte er das Dunkel und überschüttete
das geräuschvolle Schweigen mit sprachlichen
Bemühungen. Aber umsonst: plötzlich war er
verschwunden. Die beiden Scheinwerfer an
den Seitenlogen, die bis dahin jeden seiner
Schritte begleitet hatten, waren stehen ge-
blieben und ließen ihn im Dunkel. Ich habe
noch keine Schnecke sterben sehen und weiß
daher nicht, ob sie mit aufgerecktcn Fühlern
sterben kann; dieser Zuschauerraum mit den
beiden erstarrten Scheinwerferstrahlen machte
völlig den Eindruck.
Niemand der Besucher, auch wenn sie ge-
ivacht hätten, würde haben wissen können, ob
die Pause eingetreten sei oder nicht. Der Vor-
hang fiel nickt, aber das Stück ging auch nicht
weiter, so daß ich schließlich — mit gewaltiger
Anstrengung mich der allgemeinen Hypnose
entwindend — aufstand und leise (mein Gott!
man geniert sich in solchen Situationen) nach
der Bühne hinauffragte, ob jetzt Pause oder
Schluß oder das Stück noch mitten im Gange
sei. Keine Antwort erfolgte. Ich rief lauter.
Nichts. In plötzlicher Wut schrie ich: „Don-
nerwetter! was ist denn hier los?!"
Da wippten im Dunkel der Dichterloge die
Rosenknospen leise; die beiden DonnaS be-
gannen in die Hände zu klatschen — was einen
feist-fleischlichen Klang in diese geisterhafte
Atmosphäre brachte — ein rauschendes Er-
wachen und ein allgemeines stürmisches Bravo,
bei dessen Einsetzen sich der Kops des Dichters
von der steifen Hemdbrust erhob, zerrissen die
Stille.
An dieser Stelle der Aufführung verließ ich
das Theater und eine halbe Stunde später
die Stadt; denn es schien mir nach all diesem
unwesentlich, ob man zur Pause oder zum
Ende der Vorstellung geklatscht hatte, ob das
Stück seinen Fortgang nahm oder an der
Stelle stehen blieb, wo ich es ins Leben zurück-
gernfen hatte.
Ende
988
Das Wunderkind
„W jeder nur Blumen und Kränze! Wann wird mir einer endlich mal ’n Schaukelpferd
auf die Bühne schmeißen?"
f)ch schämte mich meiner kindischen Abgelenkt-
heit und zwang mich wieder, dem Treiben ans
der Bühne zu folgen. Aber während dort oben
alles unter Flüstern und Seufzen einen stillen
Verlaus nahm, schreckte mich plötzlich ein schlag-
artiges Geräusch ans, dem ein unter diesen
ruhigen Verhältnissen widerliches Rasseln
fvlgte: dem diensttuenden Stadtpolizisten, der
in großer barocker Uniform unter der leeren
Königsloge stand, war der schwere Helm, den
er nach militärischer Sitte an der Spitze hielt,
aus der behandschuhten, lässigen Rechten ge-
glitten und einige Schritt weiter gerollt. Der
Mann blieb kerzengerade stehen — war er zu
müde, sich zu bücken? Hatte er gar nichts
gemerkt? War ihm alles gleichgültig? Nur
die drei Studenten im Stehparkctt drehten
schläfrig die Köpfe nach ihm um. Bald sollte
mir klar werden, was los war. Die Vor-
stellung begann von taktartigem Klopfen be-
gleitet zu werden, das in immer kürzeren Ab-
ständen wiederkehrte und von fallenden Hand-
täschchen und Operngläsern herrührte: mir
dämmerte, daß die Leute ringsum einschliefcn
und mir, wenn ich mir nur rechte Mühe gab
wachzubleiben, ein interessanteres Schauspiel
als das auf der Bühne bevorstand. Und in
der Tat: es dauerte nicht lange, so machte zu
den verschiedenen Raschel- und Klopfgeräuschen
ein dezentes Schnarchen den Generalbaß. Mein
für Sitte und Anstand empfindliches Gefühl
begann, sich für fünfhundert Seelen zu schämen
— was gewiß keine leichte Aufgabe ist —
und der Angstschweiß brach mir aus, als ich
an den anwesenden Autor dachte. Ich sah zu
seiner Loge hinüber und gewahrte, zu meiner
Beruhigung und zu noch erhöhtem Staunen,
daß Portioneö sich um sein Profil keine Mühe
mehr gab, sondern den Kopf aus die weiße
Hemdbrust hatte sinken lassen. Auch die Rosen
zu seiner Rechten und Linken schienen cin-
geschlafen; sie sahen in der Dämmerung wie
eine Märchcnhcckc aus. Meine Phantasie schien
von Angstschweiß befruchtet zu sein — aber
ihre Ausgeburten sollten von dem, was kam,
noch übertroffen werden. Eine Schauspielerin,
eine alte routinierte Person, hakte im Dialog,
verhaspelte sich und ihre Mitspieler in eine
Verwirrung, die sie in die Nähe des Souffleur-
kastens trieb; aber von da kam keine Hilfe:
ich merkte, daß der rote Faden, der sich von
dort üblicherweise in das Stück spult,ausgehört
hatte. Grandios, wie jetzt der geistesgegen-
wärtige Hauptdarsteller die Leere zu füllen
versuchte: mit weiten Fledermausgebärden
durchfurchte er das Dunkel und überschüttete
das geräuschvolle Schweigen mit sprachlichen
Bemühungen. Aber umsonst: plötzlich war er
verschwunden. Die beiden Scheinwerfer an
den Seitenlogen, die bis dahin jeden seiner
Schritte begleitet hatten, waren stehen ge-
blieben und ließen ihn im Dunkel. Ich habe
noch keine Schnecke sterben sehen und weiß
daher nicht, ob sie mit aufgerecktcn Fühlern
sterben kann; dieser Zuschauerraum mit den
beiden erstarrten Scheinwerferstrahlen machte
völlig den Eindruck.
Niemand der Besucher, auch wenn sie ge-
ivacht hätten, würde haben wissen können, ob
die Pause eingetreten sei oder nicht. Der Vor-
hang fiel nickt, aber das Stück ging auch nicht
weiter, so daß ich schließlich — mit gewaltiger
Anstrengung mich der allgemeinen Hypnose
entwindend — aufstand und leise (mein Gott!
man geniert sich in solchen Situationen) nach
der Bühne hinauffragte, ob jetzt Pause oder
Schluß oder das Stück noch mitten im Gange
sei. Keine Antwort erfolgte. Ich rief lauter.
Nichts. In plötzlicher Wut schrie ich: „Don-
nerwetter! was ist denn hier los?!"
Da wippten im Dunkel der Dichterloge die
Rosenknospen leise; die beiden DonnaS be-
gannen in die Hände zu klatschen — was einen
feist-fleischlichen Klang in diese geisterhafte
Atmosphäre brachte — ein rauschendes Er-
wachen und ein allgemeines stürmisches Bravo,
bei dessen Einsetzen sich der Kops des Dichters
von der steifen Hemdbrust erhob, zerrissen die
Stille.
An dieser Stelle der Aufführung verließ ich
das Theater und eine halbe Stunde später
die Stadt; denn es schien mir nach all diesem
unwesentlich, ob man zur Pause oder zum
Ende der Vorstellung geklatscht hatte, ob das
Stück seinen Fortgang nahm oder an der
Stelle stehen blieb, wo ich es ins Leben zurück-
gernfen hatte.
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