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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 32.1927, Band 1-2 (Nr. 1-54)

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Nr. 49
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https://doi.org/10.11588/diglit.6659#1025
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Nun, wie sie sehen, meine Herren, es ist
mir gelungen. Ich stand auf, ich lebte, ich
atmete, ich begann wieder zu arbeiten. Meine
Depressionen konnte ich wieder in den ihnen
vorgeschriebenen, vernünftigen und durchaus
berechtigten Grenzen halten, kurz, ich war
gesund. „Gesund" war auch das Urteil meines
liebevollen Arztes, der erstaunt feststellte, daß
die Galle, ebenso wie die Leber, wieder normal,
ruhig und zufrieden mit ihren nützlichen Taten,
sich in ein absolut uninteressantes Dasein
zurückgezogen hatten. „Du bist ein ärztliches
Phänomen, Daisy," sagte mein Arzt zu mir,
„ich glaube kaum, daß du in absehbarer Zeit
wieder einen Gallenansall bekommen wirst."
— Nun, diese Geschichte, die ich ihnen, meine
Herren, erzähle, weil sie so eifrig über den
Zusammenhang des Willens und der körper-
lichen Funktionen disputierten, diese Geschichte
liegt fünf Jahre zurück. — Fünf arbeitsreiche,
heitere und gesunde Jahre, in denen ich gott-

lob niemals nötig hakte, an meinen Körper zu
appellieren, weil ich nicht die Absicht hatte, in
den Bcttstreik zu treten. Demzufolge bin ich,
wie sie sehen, eine gesunde, junge Frau, die eS
nicht zuletzt ihrer Galle verdankt, daß sie noch
am Leben ist."

Da Daisy schwieg, kamen die vier Herren,
denen dieser Dortrag gehalten wurde, langsam
wieder in Bewegung. Der Arzt schüttelte nach-
denklich und zweifelnd den Kops, der Jurist
zog drohend und aggressiv die Brauen zu-
sammen und der Psychoanalytiker tat das,
was er immer tat: er lächelte, alles verstehend.
— Nur der junge Mann ohne Beruf, der
unbeweglich zugehört hatte, enthielt sich auch
jetzt jeder Aeußerllng. Er sah die Erzählerin
mit einem ruhigen und langsamen Blick und
gesenkten Lidern an, einem Blick, der ver-
heißungsvoll und freundlich genug, fernere
Exempel dieser Art auf absehbare Zeit unnötig
zu machen versprach.

Selbstport rät der Zcichucriu M arlice Hinz

Pierre Bendre fuhr seit drei Tagen durch
den Nebel. Schließlich gab der Ballon, der
ihn trug, Zeichen der Erschöpfung, sank nieder,
streifte Bäume und glitt langsam aitf die Erde.
Pierre sprang aus dem Schiff, der also er-
leichterte Ballon siog hoch, ein melancholischer
Fettlcib, dem kein Ort zusagke. „Wo bin ich?"
fragte Pierre, und blickte neugierig um sich.
Am Himmel segelten Luftschiffe dahin und
dies beruhigte ihn; da er viel Schundromane
gelesen hatte, fürchtete er Menschenfresser
und männermordende Prinzessinnen. Mit nicht
ganz festen Deinen erklomm er einen Hügel,
sah in der Ferne eine Stadt und, etwas näher,
Bauern, die auf den Feldern arbeiteten. Er
rief sic an, sie jedoch hoben nicht einmal den
Kopf. „Fleißige Leute," sprach Pierre bei sich,
„doch scheinen sie nicht sprachbegabt." Er
schritt weiter. Ein Auto kam ihm entgegen-
gerast, fuhr vorbei; cs war völlig leer.

„Ich habe Visionen!" dachte Pierre, und
rieb sich die Augen. Und nun sah er auch ein
Luftschiff landen und eilte hin. Aber das Luft-
schiff war ebenfalls leer. Pierre begann nervös
zu werden. Er durchquerte einen Wald, er-
reichte eine Ebene, auf der ein stummes Re-
giment exerzierte. Die stramme Haltung der
Männer, ihre regelmäßigen Bewegungen so-
wie ihre Schönheit und Kraft verblüfften
Pierre. „Anscheinend besinde ich mich in einem
disziplinierten, starken Lande." Er hastete der
Stadt zu. Sie war sauber und still. Die
wenigen Leute, denen er begegnete, gingen mit
erhobenem Kopf und abgehackten Schritten
einher. Sie glichen Militärs in Zivil. Zwei
gutgckleidete Herren begegneten einander und
grüßten. „Wie geht es Ihnen?" fragte der
eine mit näselnder Stimme. „Nicht schlecht,"
erwiderte der andere im gleichen Ton. „Das
Wetter ist herrlich," sprach der erste. „Das "
Wetter ist herrlich," erwiderte der zweite. Sie
grüßten abermals und schritten weiter. Er-
freut, seine Muttersprache zu hören, und ent-

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Index
Marlice Hinz: Zeichnung ohne Titel
Max Daireaux: Das Erlebnis
Marlice Hinz: Selbstporträt
 
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