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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 32.1927, Band 1-2 (Nr. 1-54)

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Nr. 49
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https://doi.org/10.11588/diglit.6659#1026
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zückt von Ber ausgesuchten Höflichkeit Ber
beiden Herren, ging Pierre auf Ben einen zu,
lüftete seine Mühe und sagte: „Entschuldigen
Sie, mein Herr..Aber der Mann schien
ihn gar nicht zu sehen, stieß gegen ihn und
setzte seinen Weg fort.

„Grobian!" brummte Pierre und rieb sich
die Rippen. Er sah an einer Straßenbiegung
Arbeiter, trat auf sie zu, versuchte, mit ihnen
zu reden. Vergeblich: er stand vor ihnen, wie
ein Mensch, der gar nicht da ist. Pierre sah
eine Schmiede, sah den Schmied im Takt den
Hammer schwingen, er sah einen Seiler, der
am Seil zog, sah Straßenkehrer, die ihre
Arbeit mit der mechanischen Genauigkeit eines
Spielzeugs verrichteten. Er sprach mit allen,
aber keiner gab Antwort, keiner schien ihn zu
sehen. „Sollte ich etwa unsichtbar sein?"
fragte er sich. Er zwickte sich, um seinen
Körper zu fühlen, schrie laut, um seine
Stimme zu hören. Vor der Kirche stand ein
blinder Bettler. „Vielleicht wird der mich
sehen," dachte Pierre und warf ein Geldstück
in die Mütze. Der Blinde sprach: „Ehre

unserem Herrn," doch gab auch er aus Pierreg
Fragen keine Antwort. Pierre betrat die
Kirche. Ein Geistlicher predigte, schritt dann
mit dem Gang eines Paralytikers zum Altar.
Die Gläubigen standen aus, knieten nieder,
setzten sich, alles mit einer schier unglaublichen
Regelmäßigkeit und Einheitlichkeit. Pierre ging
von dem einen zuni anderen: „Entschuldigen
Sie, mein Herr,. .. entschuldigen Sie, mein
Fräulein ..." Aber die Menschen hörten ihn
nicht an, gingen an ihm vorüber. Pierre fühlte
Verzweislung. „Weshalb sehen, weshalb hören
mich diese Leute nicht? Wo bin ich? Oder bin
ich überhaupt nicht mehr?" Er hätte am
liebsten geweint. Eine elegante junge Frau
kam vorüber, ihre Schönheit erschütterte
Pierre. Er folgte der Frau, sprach sie an; sie
wandte nicht einmal den Kops. Zornig, alle
Selbstbeherrschung verlierend, packte er die
Frau beim Arm. „Gnädige Frau ..." Die
Worte blieben ihm in der Kehle stecken. Ec
fühlte einen innerlichen Stoß, eine Art elek-
trischen Chvk. Von diesem Augenblick an war
er in die Frau verliebt. Die Augen auf sie

geheftet, folgte er ihr wie ein Wahnsinniger,
sah nicht, daß ein junger Mann mit einer
Violine unter dem Arm ihm entgegenkam. Er
stieß gegen ihn. Der junge Mann stürzte hin,
auch die Violine und der Hut des jungen
Mannes stelcn auf die Erde. Pierre wandte
sich um, wollte um Entschuldigung bitten, da
sah er etwas Erstaunliches: der auf dem
Rücken liegende junge Mann, dessen Hut und
die Violine setzten ihren Weg fort, glitten auf
der Erde weiter, als ob nichts geschehen wäre.
„Wo bin ich denn?" rief Pierre außer sich.
Dann lief er der jungen Frau nach, die weiter-
gegangen war. „Gnädige Frau, ich bitte Sie
... gnädige Frau ..." Und da sie noch immer
nicht antwortete, packte er sie bei den Schul-
tern. Sie siel um, riß ihn mit. Pierre stand
auf, die junge Frau jedoch blieb liegen und
glitt weiter, fortgezogen von einer geheimnis-
vollen Kraft.. .

An diesem Augenblick bemerkte Pierre einen
laut schreienden Mann, der inmitten dieser
kalten und korrekten Leute einen tierisch-wilden
Eindruck machte. Er grist nach dem jungen

Karussel

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W. Thöny —Graz

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Wilhelm Thöny: Karussel
 
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