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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 32.1927, Band 1-2 (Nr. 1-54)

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Nr. 50
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3 2. Jahrgang

1927 / Nr. 50

A, WISBECK

„Puschi“ vom Christkindlmarkt

Das Rehlein

Es ist nicht allgemein bekannt (und wird
vielleicht manchem Zweifel begegnen), daß die
Holztierchcn, wie sie auf den VerkaufStischen
der Christkindlmärkte steifbeinig und mit ver-
ängstigtem Gesichtsausdruck herumstehen, ein-
mal im Jahr, am heiligen Abend, sprechen
können. Das Christkind selbst hat sie vvr
langer Zeit, als es noch wirkliche Weih-
nachtszimmer und wirkliche Kinderherzen
darinnen gab, mit diesem Geschenk bedacht,
damals, als die piepsenden Stimmen der Tier-
chen noch nicht von surrenden Miniatur-
dampsmaschinen und dem Gerassel elektrischer
Spiclzeugeisenbahncn übertönt wurden. Seit-
her sind diese Holztierchen immer schweigsamer
geworden, und wenn eines von ihnen, wie das
Rehlein „Puschi", dennoch den Mut zum
Sprechen fand, so bedurfte cs dazu eines be-
sonderen Anlasses. —

Mit Puschi war dem Schnitzer ein voll-
endetes Meisterwerk gelungen. „Dem mach'
ich besonders lange Haxen!" hatte er im Scherz
geäußert, aber in der Tat waren es gerade
diese langen, hilflos steifen Beinchen (ich bitte
alle Jäger, während meiner Erzählung zu
schweigen!), die Puschi neben seinen treu-
herzigen Glasknopf-
augen und dem
schwarzen Lackmäul-
chen einen außerge-
wöhnlichen Reiz ver-
liehen. Dies schien
selbst Herrn Hage-
brecht auszufallen, als
er pelzumhüllt durch
den Christkindlmarkt
am Stand der Witwe
Aschenbrenner vorbei
zu seinem, bis unter
daöVerdeck mitWeih-
nachtspaketen vollge-
pfropften2/j/ioc>/icjo-
MercedeS - Kompres-
sor-Wagen eilte. Ohne
auch nur einen Pfen-
nig von dem geforder-
ten Preis abzuhanöeln
— denn Herr Hagc-
brecht war ein seiner
Mann — erstand er
Puschi für eine halbe
Mark, mit der Ab-
sicht, dasTierchen dem
Gärtnerjungen Fritz
zu schenken, an dessen

diesjähriger Weihnachtsgabe gerade noch ein
Wertobjekt in dieser Preislage gefehlt hatte.
Es kam jedoch anders. Denn als Frau Hage-
brecht die Weihnachtskrippe für ihren Sohn
Hugdieterich installierte, mußte sie wahr-
nehmen, daß der Zottclbär Ursula von den
Motten bis auf das Holzgerippe blank ge-
bissen war, und da sie konsequent aus die
Vollzähligkeit ihrer Bestände hielt, wies sie
— wenn auch über das langhaxige Vieh
etwas unmutig —• dem Rchlein Puschi einen
Platz in der Krippe an, während der Gärtner-
junge Fritz nunmehr durch die Fragmente eines
von Hugdieterich abgelegten Husarensäbels
entschädigt werden sollte. —

Da stand nun Puschi zwischen vielen
anderen Tieren bis zum Bauch im duftenden
Moos, und wenn auch den Ehrenplatz an der
Wiege des Christkindchens ein überaus hoch-
mütiger Damhirsch einnehmen durste, so fühlte
sich das Rehlein doch so heimelig wohl wie
noch nie in seinem Leben. Allerdings, es fehlte
selbst in der Weihnachtskrippe nicht an Miß-
klängen. Ein im Fichtendickicht verborgenes
Eichhörnchen äußerte sich in wüsten Redens-
arten über seine ungünstige Placierung, der

Esel fühlte sich durch die biblisch unhaltbare
Bevorzugung des Damhirsches schwer ge-
kränkt, und eine verbeulte Zelluloid-Ente, die
träge in einem Bassin herumschwamm, schnat-
terte bösartig: „Heute wird'S wieder 'neu
Krach geben!"

Einige Stunden herrschte Ruhe und Dun-
kelheit im Weihnachtszimmer. Dann strahlte
der bis zur Decke reichende Christbaum im ver-
schiedenfarbigen Lichte hundertkerziger Glüh-
birnen auf, und ein Grammophon begann die
von einem Männerguartett weihevoll ge-
sungene, durch eine Patentnadel verstärkte
„Stille Nacht" abzusurren. Mit freudig be-
wegten Gesichtern betrat das Ehepaar, sein
Söhnchen Hugdieterich zwischen sich führend,
das festliche Zimmer. Nachdem sich das Er-
staunen über die Lichtwirkung des elektrischen
Christbaumes etwas gelegt hatte und die
Schallplatte abgelaufen war, führte Herr
Hagebrecht sein Söhnchen an den Weihnachts-
tisch, auf dem eine Fülle der köstlichsten Ge-
schenke aufgestapelt lag. „Dies alles," sprach
mit gerührter Stimme Herr Hagebrecht zu
seinem Sohn, „hat dir daö liebe Christkindchen
gebracht, und ich habe es mich diesmal eine
ganze Stange Gold
für dich kosten lassen.
Insbesondere mache
ich dich aus die elek-
trische Eisenbahn auf-
mcrksam, die dir, mit
allen technischen Er-
rungenschaften der
Neuzeit on miniature
ausgestattet, ein sehr
anschauliches Bild
moderner DerkehrS-
technik zu bieten ver-
mag und dich schon
heute anfeuern soll,
dein Augenmerk ans
jene praktische
Betätigung zu richten,
die unter den der-
zeitigen Verhältnissen
allein imstande ist, dir
späterhin Erfolg und
damit Gelderwerb zu
verbürgen. Wir wol-
len die Eisenbahn
nachher ausbauen und
in Betrieb setzen." Da-
mit wandten sich die
Eltern ihren eigenen
Register
Irmingard Straub: Christkindlmark
August Wisbeck: Das Rehlein "Puschi" vom Christkindlmarkt
 
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