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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 32.1927, Band 1-2 (Nr. 1-54)

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https://doi.org/10.11588/diglit.6659#1084
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Der Doktor weht um die Ecke. Und ich
gehe mit Rosemarie, die ihr Spielzeughündchen
aus blonden Seidensäden unterm Arm trägt,
in die Gärtnerei.

Also heute abend nach dem Diner gibt es
Ananasbowle, was natürlich ein übertriebener
Name für Fruchtsast und Damensachen ist.
Heute abend haben wir nämlich Weihnachten,
einmal im Jahr läßt sich dies nicht oermeiden.
Der Gärtner Johann ist eben dabei, blaue
Seidenmanschetten um zehn frisch gekaufte
Mistelsträuße zu binden. Die Sträuße werden
an die Lampen des Speisesaales gehängt.
Niemand soll sagen, daß Waldruhe ein Haus
ist, in dem aus Feiertage vergessen wird.

Ich frage Rosemarie, ob ihre Mama zu
Weihnachten bereits geschrieben hat. Rose-
marie verneint. Aber sie ist voll Hossnnng.
Um fünf Uhr nachmittags kommt der Brief-
träger noch einmal.

Rosemarie verabschiedet sich übrigens bald
von mir. Sie hat, wie sie nnr unter der Hand
anvcrtraut, eine Verabredung mit Friedl.
Vielleicht könnte Friedl, genau betrachtet,
nicht als richtige Gesellschaft für junge Damen
gelten. Aber Rosemaries Bonne hat Weih-
nachtsurlaub und ist solcherart nicht in der
Lage, Einwendungen gegen den Umgang ihres
Schützlings mit Liftjungen zu machen. Friedl
ist übrigens sehr nett. Wir haben ihn nnS
als Jungen von sechzehn Jahren vorzustellen.
Zweimal so groß wie seine Freundin Rose-
marie. Und erst gestern hat er als Kavalier.

für seine Dame im verschneiten Vorgarten
von Waldruhe einen ungeheuren Schneemann
erbaut, dem Rosemarie nach einigem Zögern
und Anziehen von warmen Handschuhen eine
Nase aus Bananenschalen aufgesetzt hat.

Augenblicklich scheint übrigens keine Rede
von Schneemännern zu sein. Hingegen stecken
die beiden den ganzen Nachmittag in Friedls
Kammer neben dem Zweierlift. Sie haben
dort irgendwelche Heimlichkeiten, Nachsehen
ist verboten. Friedl hat einen Zettel an die
Tür gehängt, auf dem klar und deutlich zu
lesen steht: „Eintritt strengstens untersagt!"
Und darunter hat Rosemarie, um bei der
internationalen Klientel von „Waldruhe" nicht
Mißverständnisse aufkommen zu lassen, mit
ihrer zart wie Spinnenfüßchen ausfahrenden
Schülerinnenschrift hingeschrieben: „Untres

interclite."

Erst zum Tee kommt unsere Freundin
wieder. Sie trinkt ihn ziemlich lustlos und
baut dann, da ihr Hündchen aus blonden
Seidenfäden sie langweilt, init den chinesischen
Beinplättchcn eines Mahjongspielcs Häuser
und Türme, die ihr immer wieder zusammen-
fallen.

Doktor Hornbostel kommt zur Nachmittags-
visite. Hernach wird ein bißchen Musik ge-
macht. Der Assistent des Doktors begleitet
am Klavier eine nicht mehr junge, sentimental
veranlagte Dame aus Holland, die mit ihrer
spitzen Dogelstinnnc ein Kinderweihnachtslied
summt. Ueber allen zehn Tischen des Speise-

saales hängen nun bereits die Mistelsträuße
mit den blauen Manschetten.

Und, ja, der Briefträger ist init einer Menge
Post dagewesen. Man hat nicht völlig ver-
gessen auf uns. Es gibt Pakete und Briefe.
Und die alte, gelähmte Vikomtesfe, die schon
fünfzehn Jahre in diesem Haus wohnt, läßt
eine Schere bringen, um für Rosemarie die
entzückenden Babys ihrer vorhin eingelangten,
künstlerisch kolorierten Christmaökartcn aus-
zuschneiden. Aber da weint nun plötzlich unsere
kleine Rosemarie, die eben noch artig unter
uns gesessen hat. Der Turm ihrer Mahjong-
steine stürzt ein. Und Rosemarie weint mit
ihrer silbernen Vögelchenstimme wie ein Kind,
das man in eine finstere Kammer gesperrt hat.
Wir lassen unsere Briefe und geben uns Mühe,
das Kind in seinem unbekannten Kummer zu
trösten.

Inzwischen läutet der Gong durch die Kor-
ridore. Das schöne Weihnachtsabend-Diner
wird im Speisesaal serviert. Und Doktor
Hornbostel, eben gekommen, erklärt, unserer
Freundin Rosemarie seine Mißbilligung auö-
drücken zu müssen. Wie kann eine junge
Dame weinen, noch dazu jetzt, da wir uns
doch anschicken, auf die netteste und ange-
regteste Weise von der Welt Feste zu feiern!
Und in einer halben Stunde kommt die
Ananasbowle, garantiert alkoholfrei, von der
Rosemarie genau wie wir Erwachsene aus
einem großen Glas mit silbernem Henkelunter-
satz trinken wird.

Schnee im Pack

Hanns Müller-Bremen

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