Fr. Heubner
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Stimmungskitsch
„Tja-Kinder, dies Jahr iS nischt mit dem Christbaum — der Herr Architekt hat 'n verboten!"
„He, holla, Wirtschaft!" sagt Doktor Horn-
bostel. „Ein Glas für Mademoiselle Rosc-
marie! Rosemarie ist heute Abend meine
Tischdame, wie ich mir ausdrücklich auSge-
beten haben möchte. Und nun weinen wir
natürlich nicht die Spur mehr! Hingegen
wollen wir vor der Suppe noch schnell für
RosemarieS blondes Seidenhündchen eine
phänomenale Masche besorgen!"
Doktor Hornbostel ist ein vortrestlicher
Arzt. Aber nicht heute. Heute macht die
winzig kleine Rosemarie seine Künste zu-
schanden. Rosemarie ist nicht erwachsen. Rose-
marie ist neun Jahre alt. Und niemand kann
sie hindern zu weinen, wenn sie findet, dast
dies ain Platz und ihr gutes Recht ist.
„Geben Sie sich keine Mühe, Doktor", sagt
leise und etwas spitzig die hübsche, puppen-
lockige Amerikanerin vom ersten Stock, der
wegen siebcnunddreißig drei Zehntel Tempe-
ratur vom Assistenten vorhin verboten wurde,
nach unserm Diner hinüber ins Hotel Enga-
dina zum Christmasball zu gehn. „Mit Rose-
marie werden Sie nicht so schnell wie mit unö
fertig! Die Kleine weint, weil ihre Mama zu
Weihnachten nicht geschrieben hat."
Der Doktor, geärgert, bedient Rosemarie
mit Suppe.
„Nicht geschrieben?" sagt er tröstend. „Also
da bleibt nichts übrig, als mein Ehrenwort zu
geben, daß ich unserm nachlässigen Briefträger
morgen eigenhändig den Kops abreißen werde!
Bist du einverstanden, Rosemarie?"
Wir alle kennen Rosemaries Mama. Sie
ist eine schöne, übrigens sehr berühmte Frau.
Und wenn ste augenblicklich nicht gerade in
Berlin oder Hollywood stlmt, so tanzt sie in
Nizza. Oder entzückt alle Welt aus dem Eis-
platz von St. Moritz. Und ihre kleine Tochter
Rosemarie liebt ste gewiß stürmisch. Sie hat
nur leider zu wenig Zeit, sich nach ihr umzu-
schen. Außerdem kann ihr niemand verargen,
wenn ste ihr kleines Mädchen bei unserem über
die ausgezeichnetsten Referenzen verfügenden
Doktor Hornbostel bester als bei sich im Slee-
pingcar, in Filmateliers oder Theatergarde-
roben aufgehoben glaubt. Und was den Weih-
nachtsbrief von RosemarieS schöner, vielbe-
schäftigter Mama anlangt, so dürfte unser
Doktor das Richtige tresten, da er beim Zer-
legen des Truthahns sagt: „Briese, die heute
nicht kommen, kommen morgen oder über-
morgen. Darüber weinen junge Damen auf
keinen Fall! Und nun wollen wir diesen Flügel
reinlich abknabbern, ma obere Roscmarie."
Später kommt die Ananasbowle, ein vor-
bildliches Damengetränk. Und der Primarius
Hornbostel hat eine fabelhaft aufgeräumte
Weihnachtsrede präpariert. Rosemarie hört sie
nicht. Rosemarie ist, indes wir den zündenden
lksortfetzuna Seite 1069)
1061
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Stimmungskitsch
„Tja-Kinder, dies Jahr iS nischt mit dem Christbaum — der Herr Architekt hat 'n verboten!"
„He, holla, Wirtschaft!" sagt Doktor Horn-
bostel. „Ein Glas für Mademoiselle Rosc-
marie! Rosemarie ist heute Abend meine
Tischdame, wie ich mir ausdrücklich auSge-
beten haben möchte. Und nun weinen wir
natürlich nicht die Spur mehr! Hingegen
wollen wir vor der Suppe noch schnell für
RosemarieS blondes Seidenhündchen eine
phänomenale Masche besorgen!"
Doktor Hornbostel ist ein vortrestlicher
Arzt. Aber nicht heute. Heute macht die
winzig kleine Rosemarie seine Künste zu-
schanden. Rosemarie ist nicht erwachsen. Rose-
marie ist neun Jahre alt. Und niemand kann
sie hindern zu weinen, wenn sie findet, dast
dies ain Platz und ihr gutes Recht ist.
„Geben Sie sich keine Mühe, Doktor", sagt
leise und etwas spitzig die hübsche, puppen-
lockige Amerikanerin vom ersten Stock, der
wegen siebcnunddreißig drei Zehntel Tempe-
ratur vom Assistenten vorhin verboten wurde,
nach unserm Diner hinüber ins Hotel Enga-
dina zum Christmasball zu gehn. „Mit Rose-
marie werden Sie nicht so schnell wie mit unö
fertig! Die Kleine weint, weil ihre Mama zu
Weihnachten nicht geschrieben hat."
Der Doktor, geärgert, bedient Rosemarie
mit Suppe.
„Nicht geschrieben?" sagt er tröstend. „Also
da bleibt nichts übrig, als mein Ehrenwort zu
geben, daß ich unserm nachlässigen Briefträger
morgen eigenhändig den Kops abreißen werde!
Bist du einverstanden, Rosemarie?"
Wir alle kennen Rosemaries Mama. Sie
ist eine schöne, übrigens sehr berühmte Frau.
Und wenn ste augenblicklich nicht gerade in
Berlin oder Hollywood stlmt, so tanzt sie in
Nizza. Oder entzückt alle Welt aus dem Eis-
platz von St. Moritz. Und ihre kleine Tochter
Rosemarie liebt ste gewiß stürmisch. Sie hat
nur leider zu wenig Zeit, sich nach ihr umzu-
schen. Außerdem kann ihr niemand verargen,
wenn ste ihr kleines Mädchen bei unserem über
die ausgezeichnetsten Referenzen verfügenden
Doktor Hornbostel bester als bei sich im Slee-
pingcar, in Filmateliers oder Theatergarde-
roben aufgehoben glaubt. Und was den Weih-
nachtsbrief von RosemarieS schöner, vielbe-
schäftigter Mama anlangt, so dürfte unser
Doktor das Richtige tresten, da er beim Zer-
legen des Truthahns sagt: „Briese, die heute
nicht kommen, kommen morgen oder über-
morgen. Darüber weinen junge Damen auf
keinen Fall! Und nun wollen wir diesen Flügel
reinlich abknabbern, ma obere Roscmarie."
Später kommt die Ananasbowle, ein vor-
bildliches Damengetränk. Und der Primarius
Hornbostel hat eine fabelhaft aufgeräumte
Weihnachtsrede präpariert. Rosemarie hört sie
nicht. Rosemarie ist, indes wir den zündenden
lksortfetzuna Seite 1069)
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