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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 32.1927, Band 1-2 (Nr. 1-54)

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Grete Kroch-Frlschmann

Der Materialist

„Siehsie, Schorschl, mit so eener möcht' ick mal wieder spielen!"
„Wat, mit 'ner Puppe?" — „Nee, mit dem Puppchen!"

Und sie gingen wie im Gebirge den dunklen
Flur entlang. Franzi gab ihre Geschenke für
Anton ab, damit sie unter den Baum gelegt
werden können.

„Jetzt rechts!" ... rief Frau Heuberger.

„Da gehts aber in die Küche... ?" fragte
Franzi.

„Wohin denn sonst...? Da können Sie
am bequemsten Platz nehmen, wenn Sie sich
auf die Kohlcnkiste setzen!"

„Ja, wann geht denn bei Ihnen der Weih-
nachtsabend an ... ?"

„Zuerst muß Josef mit der Matratze fertig
sein... da könnten Sie eigentlich auch etwas
helfen! Können Sie Seegras zupfen ... ?"

„Nein .. . ich habe noch nie ..."

„So — dann holen Sie uns vorne an
der Ecke zwei Paket Drahtstiften herauf.. !"

„Wie beliebt... ? Sie haben doch Kinder,
wie ich höre ..."

„Die braucht der Vater zum Bierholen —
und das Jüngste schmückt den Weihnachts-
baum, es arbeitet für Sie... !"

„Gut, dann hol' ich in Gottesnamen die
Stiften, wenn alles zusammen Helsen soll.. !"

„Alles . . . ? Wo hilft alles.. . ? Ihre
Dame schlenkert mit den Füßen an meine
Kohlenkiste ... Bitte?"

„Wir sind doch nicht zum Arbeiten zu Ihnen
gekommen... !"

„Grobheiten verbitten wir uns am heiligen
Abend . .. !" schrie Heuberger.

„Wo ist denn dieser heilige Abend, wenn ich
fragen darf... ?"

„Fragen dürfen Sie, das haben wir Ihnen
nicht verboten."

„Ich bestehe jetzt auf sofortigem Beginn der
Festlichkeiten, für die ich bezahlt habe ..."

„Was, Anton, du hast Geld hergegebcn?"

„Wo bleiben die weihnachtlichen Ueber-
raschungen? Wo die gemütliche Stimmung
mit Familienanschluß?" fragte Anton erregt.

„Die Familie ist da... bitte, schließen Sie
sich an!"

„Himmeldonnerwetter, der fröhliche Weih-
nachtsabend muß her — und zwar augen-
blicklich ... !" brüllte Saugdicgel.

„Gut, Sie sollen ihn haben ... ! Frau, deck'
im Schlafzimer die Betten zu und zünde den
Baum an, dreh' das Grammophon auf und
spiele mit den Finqern an der Fensterscheibe
Klavier... Ich singe...!"

.. . Und sie traten in den weihnachtlichen
Raum ein. Drei Stearinkerzen brannten auf
dem Baum mit sechs Aesten. Der Fußboden
war zum Christbaumständer geworden, in deni
die Staude, durch ein Astloch eingczwängt,
schaukelte. Das Grammophon spielte — aber
ohne Platte. Heubergers Kinder singen die
abfallenden Wachstropfen anf und schnullten
sie als Weihnachtsgebäck .. .

„Ist das alles ... ? Soll das vielleicht eine
Stimmung sein ...? Drei Kerzen ...?"

„Wollen Sie es heller haben, daß der ganze
Baum brennt... ? Drei Mark zwanzig
extra... ! — — — Gut, Frau hol' die
Petroleumkanne und begieß' die Zweige ... !

--— Sehen Sie, jetzt brennt der ganze

Baum ... ! Friede den Menschen auf Erden
und also die Dreizwanzig extra... !"

„Bitte bringen Sie mir die Päckchen und
den Teddybären, den ich abgegeben habe",
meinte Franzi eingeschüchtert.

„Ja, da muß ich allerdings um Entschul-
digung bitten. Mein Willy hat damit bereits
Fußball gespielt, und Karl hat den Bären im
Bauch operiert. Die Kinderkammer liegt voll
Sägmehl. An dieser Sch>vcinerei sind Sie
auch schuldig... !"

„Dann schnell den Blumenstrauß, solange
der Baum noch brennt!"

„Ein Malheur ist uns leider passiert. Die
kleine Marie hat das Grünzeug an unsere
Stallhasen verfüttert. Und übrigens: zu was
brauchen Sie jetzt noch Blumen?"

„Wir wollen uns verloben ... !" sprach
Saugdiegel feierlich.

„Anton, du Guter... !" schrie Franzi mit
Tränen auf der Nase.

„Verloben. . . ? Und alles für zwanzig
Mark ... ? Sie, das ist doch zuviel verlangt.
Alles was recht ist, aber-"

Es läutete vor der Haustüre...

„Das wird schon der Herr Bierling sein...
Und somit schließe ich diesen fröhlichen Weih-
nachtsabend ... Ausgang hier, bitte...!"

„Wa—as...? Wie...? Was soll das
bedeuten . . .?"

„Schluß der Feier . . . Jetzt beginnt der
Weihnachtsabend im Wohnzimmer, das Herr
Bierling für fünfzig Mark gemietet hat. Und
um 12 Uhr feiern wir selbst dann im Salon
die heilige Nacht. ..!"

Wie im Traume tasteten sich Anton und
Franzi zur Wohnungstüre zurück. Noch lange
standen sie auf dem Fußabstreifer mit dem
eingestochtenen „Salve" und hörten, wie
drinnen die Wunderkerzen knisterten, das
Grammophon diesmal mit Platte spielte und
Gläser gegeneinanderklangen . . .

Mit vorgcstreckten Armen wischten sie an
den Wänden des Treppenhauses herum und
suchten nach dem Fünfminutenbrenner.

An der Kellertüre fanden sie den ersten
Druckknopf. Und zwischen „Hausordnung" und
Gasrohr feierten sie bei einer ausgebrannten
Glühbirne ihre Verlobung — und ihre Weih-
nacht; zweifam, höchst feierlich und bequem . ..

Seitdem ging Anton Saugdiegel nie mehr
auf die Suche nach einem Weihnachtsabend.
Wie das Glück, ist er überall —. Und auch
ohne zwanzig Mark Anzahlung ...

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