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J U G

3 3. JAHRGANG

D

NR. 1

Eine kuriose Geschichte von Karl Kinndt

iöenn die Passagiere des „Leviathan" vor unendlicher Langweile
gar nichts anderes mehr zu tun wußten, gingen sie manchmal auf's
Promenade-Deck und betrachteten den „Stummen". Das war ein
Mann nicht leicht erratbaren Alters — um die Mitte der vierzig
mochte er sein —, der da Dag sür Dag in Decken eingehüllt im Lehn-
stuhl lag und die ein wenig erloschenen stahlblauen Augen übers
Wasser gleiten ließ. Er hatte sich als Mister R. E. Ward ein-
geschrieben. Aber obgleich er die beste Kabine des Schisses belegt hatte,
reiste er ohne jegliche Begleitung und war niehr als nachlässig gekleidet.
Zudem sprach er kein Wort. Mit keinem Menschen. Auch bei Disch
nicht. Selbst dem Steward gab er seine Wünsche zu verstehen, indem
er mit dem kleinen Finger der linken Hand auf die betreffenden Stellen
der Speise- und Weinkarte deutete, weitere Fragen beantwortete er
mit Kopsschütteln oder Nicken. Und doch wußte man, daß er nicht
stumm war: in seiner Kabine unruhig aus und abgehend, sprach er
mit sich selbst, undeutlich murmelnd. Der Steward hatte es erlauscht.

Man munkelte allerlei: von einem Del- oder Eisenkönig, der inkog-
nito nach Deutschland reise, von Detektiv und Jndustriespion. — —
Letzten Endes war man recht froh, Unterhaltungsstoff zu haben.

Eines Dages beim Lunch sprach ein junger deutscher Kaufmann,
ein unbedeutender, etwas feister Mensch mit farblosem Lebemanns-
aesicht, in schnarrend-hochtrabendem Don von Berlin als der künftigen
Metropole und dem eigentlichen „Herzen Europas". Ein peinliches
Schweigen entstand — und plötzlich brach auch der junge Mann
unvermittelt die Rede ab —: da unten saß Mister R. E Ward, leicht
ausgereckt, und starrte ihm stumm ins Gesicht. Die sonst müde ver-
schleierten Augen sprühten in kaltem tödlichen Haß — dabei lächelte
er mit herabgezogenen Mundwinkeln —: und dies Lächeln war noch
erschreckender als der Blick. Dann erhob er
sich und ging. Und ließ sich von da ab die
Mahlzeiten in der Kabine servieren.

Kurz vor Ende der Uebersahrt kam Sturm
aus. Der Steward erzählte, daß Mister Ward
die ganze Nacht die Kabine durchwandere —
ängstlich nach außen lauschend auf das leise
Aechzen im Schiffsrumpf und das dumpfe
Stampfen der Maschinen. Nur manchmal
lasse er sich aufs Bett oder in einen Sessel
fallen und stöhne, die Hände wie in stehent-
lichem Gebet zusammengepreßt: „Nicht jetzt

— nicht jetzt sterben müssen — nicht jetzt —!"

Aber man hatte genug mit sich selbst zu tun

— die meisten waren seekrank — und als der
Dampfer endlich in Hamburg anlegte, dachte
kaum einer mehr an den „Stummen".

Mister Ward fuhr mit dem nächsten Zug
nach Berlin, bezog das bestellte Appartement
im „Adlon" und verließ eine halbe Stunde
daraus das Hotel. Das Auto hielt in einer
Nebenstraße des äußeren Westens. Mister
Ward entließ es und ging durch zwei Hinter-
höfe auf ein kleines Gebäude zu, an dessen
Tür ein Blechschild befestigt war:

„Dr. Nil. Chemisches Laboratorium."

Dort läutete er. Der Mann in schmutzig-weißem Kittel, der die
Tür öffnete, starrte den Fremden an und taumelte in freudiger Ueber-
raschung zurück:

„DuH Du — hier, Hans?! Seit wann?! Wie geht es?!"

„Das nachher", sagte Mister Ward mit müdem Lächeln. „Seit
einer Stunde bin ich hier. Nun? Neues?"

Dr. Nil hatte seine beiden Hände gefaßt und schüttelte sie:

„Wie danke ich dir, daß du mir die Mittel geschickt hast, meine
Erfindung. . ."

„Nicht das. Das andere meine ich", sagte Mister Ward.

Dr. Nil wich enttäuscht zurück und betrachtete kopfschüttelnd den

Freund, den er heute nach fünf Jahren wiedersah.-Dann faßte

er sich:

„Deine Frau — deine frühere Frau meinst du —? Nein, da ist
leider nichts neues zu melden. Ich habe noch einmal alles in Bewegung
gesetzt, um zu erfahren, wo sie lebt — ob sie überhaupt noch lebt —
und unter welchen Verhältnissen —: ergebnislos. Du weißt, daß sie
sich — als du damals plötzlich verschwandest und als verschollen galtest
— nach der vom Gesetz geforderten Frist hat scheiden lassen und daß
sie dann kurz darauf wieder geheiratet hat. Einen Kaufmann namens
Schulz. Der starb nach knapp einem Jahr — oder vielmehr: er
erschoß sich, weil er wegen dunkler Geschäfte vor Gericht kommen
sollte — — und dann war nur noch zu erfahren, daß Elli. .. daß
deine frühere Frau", fügte er rasch hinzu, da er sah, daß Mister Ward
unter dem Namen zusammenzuckte, „. . . sich auf Reisen ins Ausland

abgemeldet hat.-Wie soll inan — in Berlin — in Deutschland —

in der Welt — eine Frau Elli Schulz aufsindig machen —? Viel-
leicht ist sie längst wieder verheiratet —? Vergiß doch endlich!"

Wieder wollte er die Hände des alten Freun-
des fasten — da traf ihn dieser kalte, weg-
stoßende Blick.-

„Vergessen •—?" sagte Mister Ward, als
iväre der andere gar nicht da. „Vergessen?"
Und dann ganz ruhig: „Ich habe viel gelernt,
aber vergessen habe ich nicht gelernt. Gut.
Die andere Sache. Du hast eine Ersindung

gemacht — ein zerstörendes Gas-?"

„Ja!" Dr. Nil wurde lebendig. „Durch
Zufall. Ich experimentierte — und plötzlich
ging das Licht aus. Die Sicherungen waren
in Ordnung. Ich wollte telephonisch einen
Elektrotechniker rufen: das Telephon war ge-
stört. Auch die Hausklingel versagte. Alles
wurde untersucht: kein Schaden zu entdecken!
Die sämtlichen Kupferdrähte leiteten nicht
mehr.-Man mußte alle Leitungen ab-

reißen und neu legen und auch die Apparate
ersetzen: so kam ich der Sache auf die Spur!
Deine Hilfe hat mich die Versuche glücklich
zu Ende führen lassen. Ich habe ein Pulver
erfunden, das — etwa von Flugzeugen, die
gegen diese störenden Wirkungen geschützt stnd,
ausgestreut — sich mit dem Wassergehalt der
Luft verbindet und ein GaS erzeugt, welches

Scherenschnitt von J.Straub
Register
Irmingard Straub: Scherenschnitt
Karl Kinndt: Rache an Berlin!
 
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