An der Tauentzienstraße ließ Mister Ward das Auto halten. Immer
wieder muß Dr. Nil seinen seltsamen Freund anschen! Da geht er
— immer einen halben Schritt voraus — neben ihm über den regen-
nassen Asphalt, in dem die sprühenden Lichtreklamen sich blinkend
spiegeln! Scheu — mit schief eingezogenem Kopf — wie frierend in
den fast schäbigen Mantel gehüllt. Manchmal schauen sich Vorüber-
gehende erstaunt-forschend nach ihm um —: Frauen zumeist, denn die
Männer haben keine Zeit zu Sentimentalitäten oder sie haben mit den
eigenen übergenug zu tun.
„Spürst du'ö —?" zischt Mister Ward seinem Freunde zu. „Spürst
du die schamlose Neugier in ihren Blicken, die sich so gern als Mitleid
verkleiden niöchte —? Aber geh hin zu einem von diesen Menschen
und sag, du habest eine Erfindung gemacht, die dir die Welt in die
Hand gibt — aber dich hungert im Augenblick! Hähähä —: schon bist
du nicht mehr als der Beinlose da, der Zündhölzer seilbietet! Elend ist
uninteressant. Eö gibt zu viel. Nur das Ungewöhnliche lockt. Die
Stadt hat sie entseelt. Die Stadt treibt sie zur Notwehr der Herz-
losigkeit! Teile einer Maschine — willenlos-hilflose Teile einer über-
mächtigen Maschine. Aber einmal müssen sie alle es fühlen •-wenn
die Maschine stockt. Fühlen, daß sie in einer Steinwüste wohnen —■
heimatlos — freudlos — ohne Nahrung. Daß sie keine Menschen mehr
sind, sondern Maschinenteile —, daß ihre Freude am endlos-sinnlosen
Surren dieser Maschine nichts war als Betrug — Selbsttäuschung —
Massensuggestion! Versiehst du nun —?!"
„— — Sieh: darum habe ich gekämpft — darum habe ich mich
selbst entmenscht und Geld errafft," sagte Mister Ward später, als er
uiit Dr. Nil in einem still-behaglichen Weinrestaurant saß. „Darum
bin ich herübergekommen, als du mir von deiner Erfindung schriebst."
lind, da Dr. 9ül von ihm wegsah: „Ich biete dir die Hälfte meines
Vermögens dafür und sehe dich zu meinem Erben ein. Du besorgst
dir — wie ich damals — einen falschen Paß und verschwindest mit
mir — — — wenn wir uns den kleinen Spaß dieser Rache am
.Herzen Europas' geleistet haben-: topp?"
„Topp," sagte Dr. Nil ernst und schlug ein.
„— ■— in der Sylvcsternacht!" lachte Mister Ward — und diesmal
lachte er fröhlich wie ein Junge, der seinem Feind einen Streich spielen
will-
Und immer, wenn Mister Ward nun aus dem — bedeutend ver-
größerten Laboratorium seines Freundes Dr. Nil kam, zeigte sein
Gesicht den Ausdruck tiesinnerer Heiterkeit. Stundenlang konnte er am
Fenster eines Kaffeehauses am Potsdamerplatz sitzen und zusehen, wie
daS veränderte Licht der Verkehrsampeln eine riesige Kolonne von
Autos, Omnibussen und Straßenbahnen plötzlich zum Halten brachte.
Auch sonst gab es in dieser Zeit ein paar glückliche Menschen mehr
in Berlin. Da waren etwa zehn — vordem beschäftigungslose und
halb verhungerte ■—- junge Fliegerossiziere, die plötzlich ungeheures
Glück im Spiel hatten, wie sie erzählten. Jedenfalls waren sie wieder
sehr elegant gekleidet und sielen in den teuersten Vergnügungölokalen
durch eine sehr offene Hand und eine noch vollere Brieftasche aus. •—
„Dies Jahr wird ganz Berlin in der Sylvesternacht nicht schlafen!"
lautete die fette Ueberschrist der meisiverbreiteten Berliner Zeitung ani
letzten Tage des Jahres —: und Mister Ward lächelte heiter zu-
stimmend, als er das las. Abends fuhr er noch einmal zu Dr. Nil.
„Alles klar?" Dr. Nil nickte. „Start Punkt zwölf. Und hier für
alle Fälle mein Testament. Aus Wiedersehen."
Um elf Uhr saß Mister Ward als einer der wenigen, die keinen Frack
trugen, allein an seinem reservierten Tisch im „Adlon". Der seltsame
Gast ließ fast alle Gänge des schlemmerhaft zusammengestellten Essens
unberührt zurückgehen. Desto häufiger griff er zum GlaS. Kühl-
beobachtend starrte er — immer dies spöttisch-überlegene Lächeln um
die Lippen — in das bunte Chaos der Tanzenden.
(Fortsetzung Seite i o)
Der Bahnhof A.Machck
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wieder muß Dr. Nil seinen seltsamen Freund anschen! Da geht er
— immer einen halben Schritt voraus — neben ihm über den regen-
nassen Asphalt, in dem die sprühenden Lichtreklamen sich blinkend
spiegeln! Scheu — mit schief eingezogenem Kopf — wie frierend in
den fast schäbigen Mantel gehüllt. Manchmal schauen sich Vorüber-
gehende erstaunt-forschend nach ihm um —: Frauen zumeist, denn die
Männer haben keine Zeit zu Sentimentalitäten oder sie haben mit den
eigenen übergenug zu tun.
„Spürst du'ö —?" zischt Mister Ward seinem Freunde zu. „Spürst
du die schamlose Neugier in ihren Blicken, die sich so gern als Mitleid
verkleiden niöchte —? Aber geh hin zu einem von diesen Menschen
und sag, du habest eine Erfindung gemacht, die dir die Welt in die
Hand gibt — aber dich hungert im Augenblick! Hähähä —: schon bist
du nicht mehr als der Beinlose da, der Zündhölzer seilbietet! Elend ist
uninteressant. Eö gibt zu viel. Nur das Ungewöhnliche lockt. Die
Stadt hat sie entseelt. Die Stadt treibt sie zur Notwehr der Herz-
losigkeit! Teile einer Maschine — willenlos-hilflose Teile einer über-
mächtigen Maschine. Aber einmal müssen sie alle es fühlen •-wenn
die Maschine stockt. Fühlen, daß sie in einer Steinwüste wohnen —■
heimatlos — freudlos — ohne Nahrung. Daß sie keine Menschen mehr
sind, sondern Maschinenteile —, daß ihre Freude am endlos-sinnlosen
Surren dieser Maschine nichts war als Betrug — Selbsttäuschung —
Massensuggestion! Versiehst du nun —?!"
„— — Sieh: darum habe ich gekämpft — darum habe ich mich
selbst entmenscht und Geld errafft," sagte Mister Ward später, als er
uiit Dr. Nil in einem still-behaglichen Weinrestaurant saß. „Darum
bin ich herübergekommen, als du mir von deiner Erfindung schriebst."
lind, da Dr. 9ül von ihm wegsah: „Ich biete dir die Hälfte meines
Vermögens dafür und sehe dich zu meinem Erben ein. Du besorgst
dir — wie ich damals — einen falschen Paß und verschwindest mit
mir — — — wenn wir uns den kleinen Spaß dieser Rache am
.Herzen Europas' geleistet haben-: topp?"
„Topp," sagte Dr. Nil ernst und schlug ein.
„— ■— in der Sylvcsternacht!" lachte Mister Ward — und diesmal
lachte er fröhlich wie ein Junge, der seinem Feind einen Streich spielen
will-
Und immer, wenn Mister Ward nun aus dem — bedeutend ver-
größerten Laboratorium seines Freundes Dr. Nil kam, zeigte sein
Gesicht den Ausdruck tiesinnerer Heiterkeit. Stundenlang konnte er am
Fenster eines Kaffeehauses am Potsdamerplatz sitzen und zusehen, wie
daS veränderte Licht der Verkehrsampeln eine riesige Kolonne von
Autos, Omnibussen und Straßenbahnen plötzlich zum Halten brachte.
Auch sonst gab es in dieser Zeit ein paar glückliche Menschen mehr
in Berlin. Da waren etwa zehn — vordem beschäftigungslose und
halb verhungerte ■—- junge Fliegerossiziere, die plötzlich ungeheures
Glück im Spiel hatten, wie sie erzählten. Jedenfalls waren sie wieder
sehr elegant gekleidet und sielen in den teuersten Vergnügungölokalen
durch eine sehr offene Hand und eine noch vollere Brieftasche aus. •—
„Dies Jahr wird ganz Berlin in der Sylvesternacht nicht schlafen!"
lautete die fette Ueberschrist der meisiverbreiteten Berliner Zeitung ani
letzten Tage des Jahres —: und Mister Ward lächelte heiter zu-
stimmend, als er das las. Abends fuhr er noch einmal zu Dr. Nil.
„Alles klar?" Dr. Nil nickte. „Start Punkt zwölf. Und hier für
alle Fälle mein Testament. Aus Wiedersehen."
Um elf Uhr saß Mister Ward als einer der wenigen, die keinen Frack
trugen, allein an seinem reservierten Tisch im „Adlon". Der seltsame
Gast ließ fast alle Gänge des schlemmerhaft zusammengestellten Essens
unberührt zurückgehen. Desto häufiger griff er zum GlaS. Kühl-
beobachtend starrte er — immer dies spöttisch-überlegene Lächeln um
die Lippen — in das bunte Chaos der Tanzenden.
(Fortsetzung Seite i o)
Der Bahnhof A.Machck
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