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RACHE AN BERLIN (Fortsetzung von Seite 5)

„Xvt —" murmelte er unhörbar vor sich hin, „— dies ganze so
lebendig sich gebärdende Leben —: tot! Der Bewegung beraubt — der
Sprache beraubt — des Lichtes beraubt. Die Maschine steht still.
In euren Gvldschühchen werdet ihr drei Stunden weit nach dem
Grunewald laufen müssen, ihr LuxuSgeschöpfchcn! Ing dunkle Bett.
Tot die Stadt —: kein Auto, keine Straßenbahn, kein Omnibus.
Tausende werdet ihr bieten für eine armselige Pferdedroschke! Knie-
fällig werdet ihr eine Kerze erbetteln! Monate wird es dauern, bis
ihr eurem kleinen Freund durch den neuen Draht werdet zustüstern
können, daß euer Mann von 8 bis 11 Uhr nicht zu Hause ist-"

Die Jazzband raste. Spitze Schreie von Frauen — Gelächter —
Knallen von Sektpfropfen — Luftschlangen — Konfetti-. Lang-

sam rückte der Zeiger der Uhr auf halb Zwölf.

Plötzlich schrak Mister Ward zurück —: ein Blick hatte ihn getroffen

— mitten aus dem Wirbel der Tanzenden-und dieser Blick war

in ihn gedrungen — unwiderstehlich — und brannte in ihm — —.
Halb aufgerichtet starrte er in das Gewühl — versuchte Erinnerungen
aufzupcitschen — ■—. Ein Gefühl von Wärme war da — ein längst
vergessenes Gefühl —: Wärme — Liebe — —

Ein Boy stand vor ihm: „Ein Brief für den Herrn!"

Mit zitternden Händen riß er ihn auf:

„Ich wußte, daß du lebst," stand da, stüchtig mit Bleistift hin.
geworfen. „Heute loeiß ich, warum du von mir gingst. Ich habe dich
geliebt — aber diese Stadt duldet keine Liebe. Dein Aeußereö sagt
mir, daß es dir nicht allzu gut geht. Aber heute würde ich alles mit
dir tragen — auch Armut. Ich wollte diese Nacht — angeekelt und
müde —- aus dem Leben gehen —: da sah ich dich. Ich fahre nach
Hause. Wenn du mir verzeihen kannst — wenn du mich noch liebst
und mich haben ivillst, rufe mich in einer Viertelstunde an: Rheingau
1326. Nur, wenn du wirklich willst — sonst — Es ist dann nicht
schade um mich — —. Ich warte. Elli."

Ein heiseres Gurgeln entrang sich Mister Wardö Kehle. Der Boy
stand wartend — knabenschlank mit wissendem Lächeln.

„Wo t— wo ist — die Dame —?!" ^

..Eben abgefahren —."

Mister Ward warf sich empor — der Tisch kippte, stel. Geschirr
l..d Gläser klirrten. Wie ein Irrsinniger die Tanzenden beiseitestoßend
kürzte er zum Telephon und bestellte Dr. Nils Nummer.

„Kabine 17", sagte der Portier. Es war zwanzig Minuten vor zwölf.

„Dringendst!" schrie Mister Ward. „Jede Gebühr! Hundertfach!"

Dr. Nil ineldete sich.

„Alles abblasen!" schrie Mister Ward. „Bezahle sie alle zehnfach!
Ich will nicht mehr — rasch! rasch! Mein Leben hängt davon ab —."

„Will sehen, ob's geht —" tönte eine erregte Stimme zurück.

Taumelnd verließ Mister Ward die Kabine. Er legte dem erstaun-
ten Portier eine Hundcrt-Dollar-Nvte hin:

„Notieren: die Nummer .Rheingau 1326' auf mein Zimmer! Alle
anderen Gespräche stoppen! Anläuten bis sich jemand meldet und
meinen Namen nennen! Sie bekommen — was Sie wollen •-*.

„Kellner, das ist abscheulich, eine Fliege in der Suppe!"
„Ach, mein Herr, das bißchen, das so ein kleines Tier ißt..

Die Tränen liefen ihm aus den Augen. Wankend ging er fort — fuhr
in sein Zimmer.

Kein Anruf. Stieren Auges starrte er auf den Apparat. Fragte.

„Die Nummer meldet sich nicht."

„Mit dem Amt verbinden — rufe selbst!"

„Verbunden."

Mister Ward riß den Hörer ans Ohr — wartete — nichts. Der
Zeiger der Uhr rückte auf Zioölf. Kein Laut.

Mister Wards Augen weiteten sich. Plötzlich erlosch das Licht.
Dumpf — von unten heraufdröhnend — Geschrei und Gekreisch!

Noch cininal rüttelte Mister Ward am Hebel des Apparates-:

da sah er durch die dunklen Scheiben des Fensters feine weiße Flocken

herunterrieseln — wie Schnee-. Gell auflachend reckte er sich

in die Höhe — preßte die Hand auf's Herz — und stel hintenüber auf
den weichen Teppich.

Eine Minute später stammte das Licht wieder auf und das Telephon
läutete. Mister Ward meldete sich nicht.

-Als ob nicht immer um zwölf Uhr in der Sylvesternacht

das Licht für ein paar Minuten abgedreht würde — als ob man zu
dieser Stunde nicht immer endlos auf die Antwort des Fräuleins vom
Amt warten müßte — als ob es nicht auch mal wirklich schneien könnte
am Sylvesterabend in Berlin-!

Julius Diez

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Dugo: Fliege
 
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