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Fahrgeld bereitgehalten, und die Anwohner
verlangen nicht, daß man die drei kümmer-
lichen Gaslaternen durch blendend Helle Bogen-
lampen ersehe. Ein zärtlicher Duft von Ge-
heimnis und Leidenschaft schwebt in dieser
Straße — soll ich sagen: auch der Dust all
ihrer parfümierten Passantinnen — doch
nein, das wäre gelogen; die Rue de I'Abbe-
Lsjatiere riecht ganz prosaisch nach Benzin
wie alle andern Straßen von Paris.

Diese ausführliche Charakteristik dieser
Straße soll Ihnen verständlich machen, daß
Germaine Luce, als sie dort eines Tages einer
blonden Dame begegnete, keinen Augenblick
zweifeln konnte, was diese Dame hier vor-
hatte: Genau dasselbe wie Germaine selbst,
das war klar. Als sie sich einander näherten,
wollten beide instinktgemäß auf die gegenüber-
liegende Seite ausbiegen, beide unterließen es
jedoch aus Eigenliebe; beide steckten das Rüs-
chen recht tief in den Pelz, als sie sich kreuzten,
und beide atmeten erleichtert auf, als sie durch
einen vorsichtigen Seitenblick sesisiellten, daß
sie einander nicht kannten.

Am nächsten Tag begegneten sie sich wieder.
Das ist etwas peinlich, llnd natürlich enteilen
sie beide hastig und beschwingten Schrittes.

Diele Tage wiederholt sich dasselbe. Jehl
verbergen sie sich nicht mehr, wenn sie einander
begegnen, die Nase im Pelz vergraben. Sie
betrachten sich ohne die geringste Abneigung
— das will viel heißen bei zwei hübschen
jungen Frauen —. Ich gehe sogar noch weiter:
Sie wußten nicht, wie sie angezogen waren.
Sie sehen nichts als ihre Gesichter, weil ihre
Gesichter glücklich sind.

Die Liebe, deren inniger, warmer Zärtlich-
keit sie beide eben entschlüpft sind, eine glück-
liche Liebe — das sieht man — schasst ein
einigendes Band zwischen ihnen. Sie sind noch
gesättigt von Genuß, Hingabe und Liebkosung,
sie müssen sich bezähmen, um nicht laut hinaus-
zuschreien: „Ich liebe! Ich liebe! Ich werde
geliebt!" Und man weiß, gleich wird man
wieder schweigen müssen, sich verstellen, sein
Leuchten verbergen. Wie entzückend ist es da,
einer Frau zu begegnen, die von Aehnlichem
bewegt ivird. Ihre Augen sprechen: „Auch
du? — Ja! Wenn du wüßtest, wie glücklich
ich bin. — Und ich! — Wie lange das ist bis
zum nächsten Mal... — Wie fern das
Morgen!"

Ihre Lippen lächeln sich jetzt zärtlich zu,
denn die Liebe liebt die Liebe. Liebende sind
Komplizen. So viel Leute lieben mangelhaft,
zu wenig, schlecht oder gar nicht, lachen über
die Kindereien, welche die Freuden der Liebe
ausmachen, und es ist daher ein Band zwischen
Eingeweihten: „Nicht wahr, wir haben recht?"

DaS ist so ziemlich alles. O,Sie dürfen keine
komplizierte Geschichte erwarten, Germaine ist
enttäuscht, wenn sie einmal die blonde Dame
nicht tristt. Sie erzählt eö Maurice, ihrem
Herzensfreund, und sie fügt hinzu: „Hab mich
lieb, noch mehr! Gib mir deine Zärtlichkeiten!
Weißt du, sie hat immer so selige Augen, die
blonde Frau. Was würde sie von dir denken,
wenn wir uns hernach begegnen und ich sähe
nicht so glücklich aus wie sie!" Die blonde
Dame ist nunmehr in ihre Liebe vermischt —,

CjJirafle der cy(diebe

DaS ist die Ruc de l'AbbesBajatiere. Ohne
Zweifel ist sie Ihnen unbekannt, und ich muß
darob Ihre Tugend loben, denn eS ist eine
Straße, in der die heimliche Liebe nistet. Wo-
durch sich der Abbe Bajatiere zu seinen Leb-
zeiten ausgezeichnet hat, müßte ich erst im
Konversationslexikon nachschlagcn, aber wozu
das: Auf jeden Fall war er ein sehr frommer
Mann. Man wollte sein Andenken ehren, in-
dem man einer Straße seinen Namen gab.
Ist Ihr Gedenken damit geehrt, Herr Abbe?
Kaum andere Passanten zählt Ihre Straße
als sehr tadelnswerte Männer und sündhafte
Frauen, abgesehen von den paar auch nicht
ganz unschuldigen Laufburschen der Lieferanten.

Ach, sehen Sie, Herr Abbe, Ihre Straße ist
wunderbar geeignet zu einer Bestimmung, die
Sie sicher nicht billigen würden. Sie ist im Park
von Auteuil verborgen wie ein zärtliches Ge-
heimnis in den Tiefen eines Herzens. Wie ein
schöner matter Arm in warmer Liebkosung sich
um ein geliebtes Haupt schmiegt, so kurvt sie
sich zärtlich um die Häuser, die von bescheidener
Höhe und in diskretem Grau verputzt sind. In
dieser Straße sieht man abends keine erleuchte-
ten Fenster festlicher Speisezimmer, und kein
Hausmeister sitzt hier an sommerlichen Abenden
auf seinem Stuhl vor der Türe. Die an-
fahrenden Autos halten kaum zwei Minuten,
die Insassin hat vor dem Aussteigen das

Selbstporträt Marie Laurenci»

Mit Gcitchmiguna der Galerie Flechtheim, aus dem Besitz der Galerie Thannhauser

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Register
Marie Laurencin: Selbstporträt
André Birabeau: Die Straße der Liebe
 
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