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3 3. J A H R G A N G

N R . 5

Von Richard Euringer

„Lassen Sie mich in Frieden!" sagte der
„blühende Kirschzweig", nnd entzog sich un-
behaglich: „Ich denke gar nicht daran, den
Saal zu verlassen. Sic sind betrunken. Was
wollen Sie von mir? Ich ruse meinen Mann."

„Deinen Mann, schöne Maske?" grinste
die trunkene Maske, und he grinste aus eine
schreckhafte Art; denn ihr Gesicht blieb starr,
und nur die Kiefer klappten zabnlos auf und
zu, „deinen Mann? Du wirst ibn nicht
finden unter diesen See-
räubern und Kulis, Apa-
chen und Gauchos, Türken
und Banditen. Alle haben
sie rote Nasen und wul-
stige Lippen, Blaubart-
bärte und Säbclbeine; ivie
willst du ihn da erkennen!"

„Ich brauche nur zu
rufen," sagte der „blühende
Kirschzweig".

„Nur zu rufen? Das
wäre bequem. Wir wer-
den uns einen trinken! . . .

Nur zu rufen? Und ich
kenne einen Mann, der ist
verrückt geworden dar-
über. Er sucht seine Frau.

Verstehst du? S e i n e. Er
ist natürlich ledig. Prost!

Du begreifst. Irgendwo,
sagt er, läuft sie herum
und wartet auf dich; aber
du wirst sie nicht finden.

Wie willst du denn wissen,
daß es die deine ist? Alle
setzen die Beinchen so artig
und malen das Mäulchen
so rot und stecken solch
Lärvchen vor das Gesicht.

Ganz gewiß läuft er an
der richtigen vorbei. Und
wenn er dann einmal zu-
grcift, stellt sich nach Mit-
ternacht heraus, daß es
die falsche gewesen. Das
nennt man dann Schei-
dung. Demaskierung. Wie
du willst. Ach,. es ist
traurig. Prost!"

„Komischer Kerl!" sagte Karneval

sie dachte, die Deutschen seien zu dick. Ich denke
mir das. Oder sie wollte Geld verdienen. Das
mag ihre Sache sein. Prosit! Jedenfalls setzte
sie sich auf die Bahn und reiste durch die halbe
Welt, die Verfasserin zu sprechen und sie zu
bitten, daß sie das Buch übersetzen dürfe. Und
der Verleger sagte ihr: ,Die Dame wohnt in
Neuyork.'

Schade, von dorther war sie gekommen,
lind als sie zurückkam, fand sie die Adresse:
die Dame wohnte gerade
im selben Wolkenkratzer
wie sie. Im selben Stock-
werk, bitte! Jeden Tag
dreimal waren sie mit-
einander im Lift auf und ab
gekugelt. Schöne Maske,
wer bist du?"

„WaSgeht dich daSan?"
„Nichts, nichts. Man
Ivohnt auf derselben
Treppe, im selben Stock-
werk, im selben HauS.
Rutscht aneinander vorbei.
Manche Leute schrecken
zusammen, wenn sich zwei
Schnellzüge kreuzen . . .
ratsch! aneinander vorbei!
Sie fürchten den Zusam-
menstoß. Ich fürchte ihn
nicht und erschrecke doch
auch: Menschen stehen im
Gang, hüben und drüben,
und starren sich in die
unleserlichen Gesichter, die
vorbeigepeitschten Grimas-
sen. Sicher rast der
Mensch, den ich im
Norden suche, nun, mich
suchend, nach Süden! Ach,
mir wird schwindlich! In
der Untergrund-, in der
Schwebebahn, wenn die
Schübe der Limousinen an-
einander vorüberrattern!
Alle sind schrecklich eilig
und sinden nicht Zeit, durch
ihr Visier zu visieren. Gott,
da wären sie schon am
Ziel! Ja, eö gibt Tiere,
E. Gvhlcrt die ziehen am gleichen

der „blühende Kirschzweig". — „Ja, sehr
komisch," sagte die trunkene Maske; „kennst
du das Buch ,Halloh! Dein Gewicht!'? Du
mußt es lesen. Es handelt von Kalorien, und
ivie man schlank bleibt, blühender Kirschzweig;
eö wird deine Tante interessieren, die immer
im ,Weißcn Hirschen' Diät hält. Aber ich rede
ja nicht von ihr. Ich rede von der Verfasserin.
Nein: von der Uebersetzeriu, einer Danie in
Neuyork, die dies Buch übersetzen wollte; denn
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Ernst Göhlert: Karneval
Richard Euringer: Die trunkene Maske
 
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