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3 3. JAHRGANG

N D

19 2 8 / NR. 45

Lukadia schlief bis zu ihrem sechzehnten
Jahre mit ihrem kleinen Bruder Pyll iin
Kinderzimmer. Sie trug braune Locken bis
auf die Schultern und schminkte sich die zarten
Lippen karminrot. Im weißen Spitzenkleid-
chen hatte sie das Aussehen einer kleinen
Prinzessin.

Am Tage, im Gewirr der Sorgen um
Schulaufgaben und Kinderpflichten, war sie
verschlossen und zeigte niemand ihr wirkliches
Wesen.

Nachts aber, wenn die Sterne funkelten,
erwachte Lukadia, weckte Pyll aus dem
Schlafe und verwandelte sich in ein munteres
Teufelchen. Sie spielte Theater mit dem
kleinen Bruder, indes Mama auf Bälle ging,
in Logen saß. Diese Mutter war noch jung,
seit Zähren verwitwet, aber schön und das
erwachsene Ebenbild Lukadias.

Kein Wunder, wenn sie im
aufblühenden Geschöpf noch
einmal sich selber sah und,
darüber geschmeichelt, dem
Mädchen freien Lauf ließ. So
wuchs Lukadia frei und wild
heran, fchoß empor und blühte,
umgeben von süßer Leicht-
lebigkeit, in den Tag.

Eines Morgens erwachte
Lukadia mit dem schmerzlich
wundersamen Bewußtsein, ein
Weib geworden zu sein, ein
Wesen mit Sinnen, einem Leib
mit Sehnsüchten,einem Herzen
mit ungeahnten Möglichkeiten.

Sie weinte vor Bestürzung.

An diesem Tage wurde sie
sechzehn. Onkel Tiberius
brachte Kuchen mit und ver-
riet dem erschreckten Kinde,
daß es Jungfrau sei.

Lukadia sah ihn traurig an.

Tränen traten in ihre opal-
grünen Augen. Dann sagte
sie: „Jetzt darf ich dir also
nicht mehr auf die Glatze
spucken?"

Tiberius, den sie immer im
Bett empfing, zwinkerte ihr

zu und meinte beziehungsvoll: „Jetzt bist du
kein Kind mehr, süße Lukadia!"

Sie errötete, und dann suhr eö blitzschnell
durch ihr Köpfchen: „Also bin ich jetzt eine
Dame, und somit geht eö nicht länger an, daß
ich im Hemdchen vor Onkel Tiberius im Bett
sitze, wenn ec Nkorgenbesuch macht!"

Etwas anderes aber wollte und durfte sie
jetzt. Und beim Gedanken daran wurde ihr
gleich wieder gut.

„Nun wirst du mich ausführen, Onkelchen!"
befahl sie ihm. Er hatte nichts dagegen, um
so mehr, als Lukadias Ebenbild am Lido saß,
mit Kavalieren soupierte, das Leben in vollen
Zügen genoß.

„Wie Eure Hoheit wünschen", lächelte der
alte, schon ein wenig verlebte Galgenvogel
Tiberius.

Sie gingen ins Opernhaus.

Sie staunte, sie erschrak. Nun sah sie
Menschen im Glanz, Farben, Prunk auf der
Bühne und in dunkelsamtenen Logen pracht-
volle Frauen sitzen.

Jetzt begriff sie, was eö hieß, ein junges,
leuchtendes Weib geworden zu sein. Sie be-
tastete ihre Schenkel, ihren Busen, wenn sie
vor dem Spiegel stand. Sie sah bebend auf
die Rundung ihrer jungen Brüste, die erhabene
Schulterlinie, den grazilen Wurf ihrer Beine,
das sanfte Ebenmaß kaum erkennbarer
Hüften. Sie sprang am Morgen mit heißer
Sehnsucht aus dem Bett, das Hirn voll
ungelebter Träume.

Onkel Tiberius kam jetzt täglich und ent-
führte die siolze Lukadia in rauschende Räume,
in den Menschenknäuel der Gesellschaft. Er
hatte immer eine bunte Sippe
um sich, er liebte das Leben.
So war es nicht zu verwun-
dern, wenn Lukadia an seiner
Seite zu rascher Entfaltung
kam und zur richtigen Stunde
auch einem Manne begegnete,
der ihr zu gefallen schien.

Und wie sie dann zum
erstenmal mit ihm allein war
■— sie saß wieder im Theater
— da eröffnet« der junge
Mann ihr sein Herz. Sie
fand eö komisch, wie Männer
reden, wenn sie lieben. Doch
ließ sie ihn gewähren. Es tat
ihr wohl, seine Hände zu
fühlen in zärtlicher Liebkosung,
seine Lippen, den Kuß im
Dunkel der Loge. Schauer
durchrieselten sie. Und während
Bolo neben ihr glücklich war,
sah sie auf die Bühne hinunter,
genoß das Spiel der Künstler
und dachte dabei, daß diese
AuSerwählten täglich unten
auf der Szene solche Süßig-
keiten erleben durften, ohne
Verbindlichkeiten, halb auf der
Ebene deö Scheins, entrückt
und doch vor taufend hung-
Register
Max Schwarzer: Illustrationen zum Text "Zeichnung"
Wolfgang Hartmann: Lukadia
 
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