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33. JAHRGANG

N D

1928 / NR. 51


Der fünfzigjährige Dichter Hans Caroffa
Zeichnung von Willi Geiger

E-ine Kindheitserinnerung
VON HANS G A R O S S A

toeif wann bin ich? Die Stunde, da die Welt uns übernimmt,
und die andere, da sie uns wieder weitergibt, sie werden aufgeschrieben
und nach etlichen Jahren vergessen. Das Herz aber erinnert sich
nicht, wann es zu schlagen begonnen; es fühlt sich anfang- und ende-
los, und in den geistigsten Sekunden des Daseins, wenn uns die
Lebenswoge so hoch erhebt, daß wir weiter schauen als sonst, wird
aller Zeitentrug aufgehoben, einzig die ewige Seele lebt. So fühlen
wir uns ursprünglich auch eins mit allem rings Gegebenen. Das
Kind, das aus der Säuglingsdämmerung hervorwächst, weiß nicht,
daß der gemeinsame heimatliche Stoff des Alls, dem es entnommen
ist, sich allenthalben längst gefährlich von ihm fortgewandelt hat:
es lächelt allen Dingen zu, es kennt weder Mitleid noch Furcht, es
langt nach den strahlenden Augen von Menschen und Tieren, es
würde den Tiger streicheln, die Flamme umarmen.

Immer in der Weltmitte fühlt sich das Kind, und unter den Er-
wachsenen besteht eine stille Vereinbarung, ihm darin recht zu geben.
Die starrsten Menschen huldigen ihm; ja wenn ihnen voreinander
graut, flüchten sie zum Kinde. Alle scheinen etwas von ihm zu er-
ivarten; jeder traut ihm heimlich zu, daß es eine neue Offenbarung
des Menschlichen bedeuten und nicht etwa auch nur ein Bürger oder
ein Arbeiter oder ein durchschnittlicher Fürst werden wird. Das Kind
aber nimmt Verehrung und Gaben wie eine Gebühr entgegen und

wird höchst ungehalten, wenn man ihm die anfänglich verliehene Hoheit
nach und nach wieder abnimmt. Don mir wenigstens weiß ich es,
daß ich die Huldigungen, die man den ersten Jahren zu erweisen
pflegt, sehr tief beherzigte und keineswegs auf sie verzichten wollte.
Eine scharfe Form wurde nötig, um mich zur Abdankung zu bewegen.

Es mochten drei Wochen her fein, daß.König Ludwig der Zweite
im Starnberger See ertrunken war, und noch drehte sich jedes Ge-
spräch um dieses Ereignis. Von der Schönheit und Entrücktheit jenes
Herrschers, von seinen Launen und glänzenden Schulden, von dem
unerhörten Prunk, womit er sich umgab, erzählte die Mutter viel;
ich war ganz von ihm ausgefüllt und hatte mich oft im Geiste an
seine Stelle gesetzt. Ein Hochsommecnachmittag lag über Kading,
tind eben begann das alltägliche Tranergeläute, womit sechs Wochen
lang das ganze Land Bayern seinen toten König ehrte, als ich, von
irgendeiner Streife her, auf den Gasthof zuging, dessen ersten Stock
wir damals bewohnten. Das Haus hatte noch vor kurzem eine
schmutzig-bräunliche Farbe getragen; jetzt war eS weiß getüncht, und
diese neue Fassade zog mich festlich an. Zugleich steigerte das mächtige
Glockenläuten meine Stimmung, und auch sonst hatte ich Grund,
mich gehoben zu fühlen; denn eine bedeutende Erfindung war mir
am Tage vorher geglückt. Einem puren Zufall verdankte ich die
Beobachtung, daß junge, kaum haselnußgroße Roßkastanien, auf
Register
Willi Geiger: Der fünfzigjährige Dichter Hans Carossa
Hans Carossa: Der Usurpator
 
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