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„Soll das nun ein Bosen sein oder ein Christbaumt
„Keines von beiden — ein Symbol!"

Clhe Leiden I( eihnciclilsengel

len
Von

einnac
A. Wi sbeck
I.

Der Bub des Wildhegecs war cm tapferer Klinge, und wenn er aus
seinem Schulweg durch den düsteren Forst nach Hause ging, dann
konnte ihn weder der Gedanke an Hexen, Riesen oder andere unirdische
Erscheinungen schrecken. Einmal aber hatte der kleine Hans doch ein
Erlebnis, wodurch ihm bestätigt wurde, daß cS zum mindesten noch
Engel aus der Welt gäbe. Es war damals, als er am Tage der
Christbescherung die Straße durch den verschneiten Hochwald stapfte
und vom Schlitten der Gutsherrschaft überholt wurde, Unförmlich
eingemummelt hockte der Kutscher Martin auf
dem Bock, und würde ihn Hans nicht an seiner
Knollennase erkannt haben, die blau gefroren
aus der zotteligen Bärenmühe heraushing, so
hätte man ihn unbedenklich als den heiligen
Nikolaus ansprechen dürfen. Denn manches
Seltsame und Unerklärliche war in den lehten
Tagen bereits geschehen. Es gab Fährten im
Schnee, die nicht vom Wild herrührten und
die Spuren eines winzigen Frauenschuhes zir
sein schienen, man hörte das Sausen unge-
wöhnlichen Flügelschlages über den Tannen-
wipfeln, ja mitunter geschah es sogar, daß
fernher ein Heller Schein durch den Hochwald
fiel, als würde dort ein Lichterbaum getragen.

Eine kurze Strecke vor Hans hielt das
Fahrzeug, und als der Kleine daran vorüber-
stapfen wollte, zog ihn eine zarte Hand in
den Schlitten und drückte ihn auf ein Polster.

Nachdem der Junge endlich wieder zum Bewußtsein des rätselhaften
Vorganges gekommen war, blickte ec in ein Frauengesicht, so mild
und schön, daß selbst die „Schnceflockenkönigin" auf MuttcrS Seifen-
pnlverschachtel beschämt hätte zurückstehen müssen. Nun, schon diese
strahlende Schönheit konnte den Verdacht erwecken, daß eS sich hier
um eine überirdische Erscheinung handelte; die Pakete aber, die gold-
und silberverschnürt im Schlitten lagen, behoben auch den letzten
Zweifel: Hier fuhr der Weihnachtsengel über das Land; und wenn
Martin heute nicht fluchte, sondern nur hin und wieder die Eiszapfen
von seiner Nase fegte, so wußte er schon, weswegen er sich so hoch-
feierlich zu benehmen hatte! „Bist du wirklich der Weihnachtsengel?"
suchte sich Hans zu vergewissern. „Ja," lächelte die Erscheinung
unsagbar mild, „der bin ich". — „Dann schickt dich also das Christkind
mit diesen Geschenken auf das Schloß?" — „Es schickt mich zu a l l e n
Kindern der Welt, die an mich glaube n", flüsterte der Engel,
hauchte einen ganz kleinen Kuß auf Hansens froststarre Lippen und
drückte ihm eines der Pakete zwischen seine Fäustlein. Als der Junge
dann abgesetzt wurde, blickte er noch lange dem Schlitten nach, und
es erschien ihm nicht wundersam, sondern nur natürlich, daß sich ein
Lichterkranz um ein Gefährt wob, in dem der Weihnachtsengel durch
den Wald fuhr. — --

Ach ja, dieser einfältige Junge! Er glaubte selbst noch in
späteren Jahren an den „Engel", als er schon längst wußte, daß
ihn die zweimal geschiedene Baronin Schlettow-Staufencgg mit
kandierten Pflaumen im Einkaufswert von zwei Mark und fünfzig
Pfennigen beschenkt hatte. Er wird immer aufs neue erfahren, daß es
weder WeihnachtS- noch sonstige Engel auf dieser Welt gibt, und doch
an sie glauben, vielleicht wird er mit diesem dummen Kinder-
glauben sogar sterben, mag sein als Künstler, Dichter, Musikant oder
sonsthin lebcnSuntüchtigeS Individuum.

II.

Herr Kerbenhauer war gerade mit dringender Korrespondenz be-
schäftigt und mußte cs deshalb aufs peinlichste empfinden, daß er
durch das alberne Geschwätz seines SöhnchcnS Fritz gestört wurde.
Mit ausladender Breite referierte der Junge darüber, wie vergangene
Nacht der Weihnachtsengel in fein Zimmer geflogen sei, sich an sein
Bettchen gesetzt habe etc. p. p. Nun, Herr Kerbenhauer war ein
gütiger, ja fürsorglicher Vater, und so schob er denn Fritzchen zunächst
ein Fieberthermometer unter den Arm. Sodann wandte er sich heimlich
fluchend dem abseits liegenden Thema „Weihnachtsengel" zu. „Vor
allem," begann er milde, „wollen wir feststellen, ob deinem sogenannten
Erlebnis nicht eine erhöhte Temperatur zugrunde liegt! Unterdessen
aber lasse dir von mir folgendes eröffnen: Du stehst nunmehr in einem
Alter, in dem du aus kindlichen Phantasiegebilden in die reale Tat-
sachenwelt einzutreten hast, um ein tüchtiges Glied der heutigen Gesell-
schaft, ein echter Kerbenhauer, zu werden. Und nun wollen wir den
von dir geschilderten nächtlichen Vorgang auf seine Möglichkeit hin
überprüfen! Erstlich: Wie dir bekannt, habe ich gegen die Gefahr
der Fassadenkletterer unsere Fenster mit dem patentierten Stahlroll-
laden .Phylax' gesichert. Das Eindringen des Weihnachtscngels'
erscheint demnach nicht nur technisch undenkbar, sondern die .Phylax

Garantiesumme von
(Forts. Seite 834)

F1 e c li t n e r

„Kellner, löschen'se die Weihnachtskerzen, ick will erst nach dem fünften Gang

sentimental werden!"

832
Register
Walter Herzberg: Boheme
Otto Flechtner: Zeichnung ohne Titel
August Wisbeck: Die beiden Weihnachtsengel
 
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