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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 34.1929, (Nr. 1-52)

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W. Thöny-Graz

Ifforosbofi für 1Q2Q

Im Jahre neunzehnhundertneunundzwanzig
mire) alles gänzlich anders als es war:

Ein jeder fühlt dem Nebenmensch verwandt

sich-

man find't sogar ein einig Ehepaar!

Die Völker lieben nun in Permanenz sich:
man streicht die Schulden, und der Rhein

wird frei!

(Nur in Bolivien steht die Sache brenzlich —
da gibt's ein bißchen Krieg mit Paraguay —

Vielleicht beteiligt sich auch Argentinien

und Chile und Brasilien und Peru-

Die Grenzen kriegen etwas andere Linien,
doch dann herrscht wieder sriedlich-tiese Ruh!)

In Leipzig urteilt man streng unpolitisch.
(Genau wie jetzt im Falle Bullerjahn.)

Selbst Ludendorff schreibt nur noch pro-

semitisch,

und Hitler heiratet ein Fräulein Cahn.

Die Presse wird diskret und wahrheitsliebend,
uneingedenk des Inseratenteils —:

Kurzum, eS schwindet alles, waS betrübend.
Die Welt wird schön in diesem Jahr deS Heils!

Benedikt

Okkultismus

.Immer in der Sylvesternacht erscheint mir mein verstorbener Mann."
.Dürfte ich ihn nicht mal vertreten, gnädige Frau?"

Ablehnung

„Weshalb willste nich Neujahr mit mir
feiern, oller Dussel?"

„Weil det Neujahr det einzig neue an dir
is, Ma chen!"

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leuffilenclG

ir

Ich beuge mich aus dem Fenster. Durch
die pechschwarze Nacht sticht eine kleine, kreis-
runde Helligkeit zu mir: das Zifferblatt der
Normaluhr. Ihre Zeiger stehen in spitzem
Winkel zueinander. Es ist zehn Minuten nach
zwölf. Nach dieser blhr sehe ich allabendlich
vor der Mühsal des Einschlafens: nicht um
die Zeit festzustellen — daS könnte mich
peinigen —, sondern deS reizvollen Kontrastes
wegen zwischen endlos dunkler Straße und
der kreisrunden Helligkeit des Zifferblattes,
vor dem die schmalen Zeiger, spukhaft
wandelnd, wechselnde Winkel beschreiben. Ich
liebe die große, schwarze Nacht als Symbol
für alle Raum- und Zeitlosigkeit in uns
selbst — und daS weiße Kreislicht mit dem

schreitenden Zeigerpaar ist zu vergleichen dem
hilflos kleinen Ausschnitt dingraumzeitlicher
Bewußtheit, in der wir, du und ich, uns
bewegen.

Nranchmal spiele ich, daß du der kleine
Zeiger bist und ich der große. Wir kreisen
schrittweis umeinander und beschreiben Winkel
dabei, die sich wechselvoll verschieben, viel
spitze und stumpfe, seltener: rechte. Zuweilen
stellen wir unS polarisch gegeneinander, und
hie und da vereinigen wir unS. Dann über-
rage ich dich um ein Stücklein Einsamkeit und
weise mit meinem Letzten in ein frierendes
Dunkel, während du für einen Atemzug von
Sekunden ganz gedeckt bist.

Ich bin der Minutenzeiger — und mein

f
Register
Jeanne Mammen: Ablehnung
Benedikt: Horoskop für 1929
Gerda v. Below: Die leuchtende Uhr
Wilhelm Thöny: Okkultismus
 
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