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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 34.1929, (Nr. 1-52)

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Nr. 16 (Auto-Nummer)
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VON HANS KAFKA

Ich kann den Bleistift leider zu nichts anderm verwenden als zum
Schreiben. Das selbsterlebte Bild also, das ich fejthalten will, sieht
so auS:

Bis zum Berggipfel geht die Straße; man kann es weniger als
ein Gehen bezeichnen, denn als ein Sich-Hinan-Krümmen Ln abenteuer-
lichen Windungen. Die ersten Menschen, die sich um den noch
unbestiegenen Berg bemühten und deren erste Fußtapsen sich inzwischen
zur komfortablen Autostraße ausgewachsen haben, wollten sichs wohl
lieber krumm und bequem, als gerade und schwer machen. Nach
ihnen war der Berg dann nicht mehr jungfräulich.

Heber die Straße rast eine staubbedeckte Limousine, sie will unbe-
dingt und um jeden Preis der Erde oben am Gipfel sein, bevor die
Sonne, die sich eben die Farben für den herbstlichen Abend auflegt,
verschwunden ist. Dieser Wille ist keineswegs vernünftig. Von jeder
Straßenwindung aus läßt sich das mit der Sonne ebenso betrachten.
Weiß Gott, warum sie es von oben haben will. Eigentlich will sie
es gar nicht, sondern der Fahrer, der auf ihr hockt und seine Beine
in ihren Nacken stemmt. Beinahe Unmögliches verlangt er von ihr,
auf so krummer und dabei doch so beschwerlich ansteigender Straße.
Hie und da zuckt sie geradezu auf, ächzend in allen Achsen und vor
Anstrengung stockend. Das ist dem Fahrer ziemlich egal; sie will nicht,
aber sie muß. Dafür entschädigt er sie zu anderen Zeiten mit Zärt-
lichkeit. Spricht er etwa: „Meine Limousine", so klingt dies wirklich
wie ein romantischer Frauenname, wahrhaftig wie ein Sprechfehler,
der eigentlich Melusine heißen sollte. (Das müßte alles in der
Zeichnung ausgedrückt fein.)

Der Fahrer hat das Tempo eingestellt, mit dem, menschlicher
Berechnung zufolge, seine Melusine oben am Berggipfel noch zurecht
kommen müßte. Indem er so ihr alle Sorgen überläßt, sieht er
ein bißchen in die Natur hinein. Ochsen stehen auf den Wiesen und
fressen und verdauen deren Gras zur gleichen Zeit. Ob sie infolge
ihrer innigen Beziehung den GraS- und Heuduft noch bezaubernder
finden, als der bloß vorbeifahrende Mensch? Für den existiert aller-
dings noch der mit den beiden eben genannten zufammengemixte Duft
der Fichtennadeln, der auf die menschliche Seele allein schon wie ein

nervenerregendes Bad wirkt, während er den Ochsen beileibe nicht zu
interessieren vermag. Sollte doch der Mensch ein höheres und mysti-
scheres Wesen sein? Nein, wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich sind
solche Wirkungen, wie die der Fichtennadeln doch rein physiologisch
erklärbar. Auch die Wirkung der grünen Farbe überhaupt: man hat
bereits exakt erforscht, warum sie den Augen und damit zugleich dem
inneren Menschen wohl tut. Der Fahrer weiß das, er hat sich,
zwecks noch stärkerer Wirkung, eine grüne Brille aufgesetzt. Durch
sie sieht er in die Natur hinein. Eigentlich müßte ja jetzt alles,
was er sieht, infolge der physiologisch exakt erklärten Wirkung des
Grüns seiner Seele wohltun. Aber ganz so einfach ist das nicht.
Eben denkt er darüber nach, daß bei der Wohltat, die er empfindet,
doch das Bewußtsein „Natur" mystisch mitspielt: durch dieselbe grüne
Brille besehen, übte etwa die Tauentzienstraße bei weitem nicht dieselbe
Wirkung aus. (Das müßte auch in der Zeichnung ausgedrückt sein.)

Der also gedankenreiche Fahrer übersieht fast die nächste krumme
Kurve seiner Straße. Hinter ihm im Wagen sitzt übrigens noch einer
(er sieht mir ähnlich); der ist weiß vor Entsetzen. Er beobachtet
während der ganzen Fahrt, wie eine riesige Hummel am Hals des
ahnungslosen Fahrers sitzt, gerade auf einer wichtigen Ader. Er wagt
nicht, sie zu verscheuchen, er fürchtet sich, sie könnte dann erst recht
stechen, womöglich gerade beim Passieren einer Straßenfielle, an der
der Stich zugleich der Sturz des ganzen Autos wäre.

Bei diesem Momentbild, ausgenommen durch die Augen des
entsetzten Fahrgastes, will ich es bewenden lassen. Ob es komisch
wirkt, tragikomisch oder tragisch — das kommt auf den an, der eS
sich ansieht. Jedenfalls, die krumme Straße, das sinnlose Ziel, der
Zwang auf eine geduldige Maschine, ihrerseits mit übermenschlicher
Kraft einen Berg unterzuzwingen, die Verlorenheit in Landschaft
und Gedanken (und zwar eines Menschen, der lieber aufpasfen sollte,
wie und wohin er fährt), und vor allem die Hummel am Hals
des Ahnungslosen, die vielleicht stechen wird, vielleicht auch nicht —
das ganze Bild wird nicht nur mir, sondern auch allen andern sehr
bekannt Vorkommen. Eventuell kann auch unter der ganzen Original-
zeichnung „Das Leben" stehen.
Register
Walter Busch: Zeichnung ohne Titel
Hans Kafka: Statt einer Originalzeichnung
 
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