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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 34.1929, (Nr. 1-52)

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J U G E

34. JAHRGANG

N

19 2 9

VON MICHAEL JOyCE

Autorisierte Übertragung von Irene Kafka

Still und leer lag das Schulhaus.

Hilda war an diesem Nachmittag nach London zurückgekehrt, und
nun war Mary ganz allein. Vor drei Tagen war sie aus der Stadt
gekommen, um die Leitung der Schule von Bethelwy zu übernehmen,
und Hilda hatte sie begleitet, um ihr bei der Uebersiedlung behilflich
zu sein. Die Schule stand etwa fünfzehnhundert Fuß hoch auf dem
Abhang des Black Mountain. Es gab kein Dorf Bethelwy; nur die
Kirche und die Methodistenkapelle, um welche sich die Moorlandhütten
und Farmen kreisförmig reihten. Die Schule lag etwas mehr als
eine Meile von der Kirche entfernt; von ihren Fenstern aus war keine
menschliche Behausung zu erblicken, denn Cantawel, die nächste Farm,
lag vollständig hinter Fichtenwaldungen verborgen.

Die Frau in Cantawel war sehr lieb zu Mary gewesen, doch sie
hatte nicht daran gedacht, das Mädchen aufzufordern, die Nacht in
der Farm zu verbringen. Auf dem Lande aufgewachsen, kam ihr
gar nicht in den Sinn, daß das Uebernachten in einem leeren Haus,
im Schatten von Fichtenbäumen, Angstgefühle wecken konnte. Lind

>

Otto Herbig

auch Mary hatte nicht daran gedacht, da sie, wie so viele Städter,
niemals allein in irgendeinem Hause geschlafen hatte.

Als die Dämmerung hereinbrach, entzündete sie die Petroleumlampe,
zog die Vorhänge zu und schürte das Feuer; denn, war auch schon
Frühjahr, so ließ die Nacht sich naß und frostig an, und das Zischen
und Krachen des brennenden Holzes war wie lebendiger Trost. Sie
fetzte sich hin, um zu lesen; doch, des Buches müde, griff sie nach einer
Zeitung, die sie für die Reise gekauft und noch nicht gelesen hatte.
Aber auch diese konnte Marys Aufmerksamkeit nicht fesseln, und ihre
Gedanken singen an, umherzuschweifen.

Wie neugierig doch die Leute der Gegend waren, überlegte sie.
Sie musterten jeden so sehr. Vielleicht waren ihnen Fremde ungewohnt
— Bethelwy lag über zwölf Meilen von der Eisenbahn entfernt —,
so daß jedes unbekannte Gesicht Gegenstand heftigsten Interesses
bildete. Doch nein, es lag mehr als Neugierde darin. Wann immer
die beiden Mädchen Dauernburschen begegneten, die an Sommer-
abenden gruppenweise auf den Wegen umherlungerten, hörten sie
kaum unterdrücktes Lachen; hatten sie aber unbewußt ihre Schritte
beschleunigt, um die Schar möglichst schnell hinter sich zu lassen, so
waren ihnen Psiste, lautes Gelächter, schallende Heiterkeit gefolgt.
Nein, dachte Mary, als sie am Kamin saß, da steckt mehr dahinter
als nur unschuldige Neugier von Bauerntölpeln. Im Laufe der drei
Tage, die sie auf dem Lande verbracht hatte, waren ihr seltsame
Geschichten von Gier und Grausamkeit zu Ohren gekommen; Ge-
schichten, die den Klatschbasen nichts bedeuteten, die aber das städtisch
erzogene Mädchen tief empört hatten, und die sie noch immer schaudern
ließen, wenn sie beim Schein der Lampe ihrer dachte.

Wind erhob sich und fuhr stöhnend durch die Fichtenbäume auf
dem Hügel. Mary stand auf, um das Fenster zu schließen, und starrte
in die Nacht hinaus. In ungleichmäßigen Stößen blies der Wind;
zackige Wolkenschwaden segelten über den Halbmond, so daß der
Garten bald in hellem Licht, bald im Schatten lag. Hinter jedem
Busch sah sie Gestalten.

Rasch schloß sie das Fenster, wollte zu Bett gehen. Sie wußte,
daß sie niemals die Dunkelheit hier oben werde ertragen können. Auch
nicht den Aufenthalt in den kahlen, uneingerichteten Räumen, in denen
jeder Schritt widerhallte.

Lauter klagten die Fichten, heulend psist der Wind durch das Haus.
Plötzlich krachte es aus der Küche wie brechendes Metall oder Glas.
Die Lampe ist herabgefallen, sagte sie sich, um sich zu beruhigen, das
war sicher der Wind. Es kann doch sonst niemand draußen gewesen
sein, überlegte sie weiter, ein Windstoß muß die Lampe vom Fenster-
brett hinuntergefegt haben.

Sie zwang sich, die Tür zu öffnen, die nach der Diele führte. Da
hörte sie trippelndes Geräusch, das aus der Küche kam. Schritte?
Nein, natürlich Mäuse oder Ratten. Sie wagte es nicht, sich aus
dem Bannkreis des freundlichen Lichtes im Wohnzimmer zu entfernen;
sie schloß die Tür und setzte sich wieder an das Kann'nfeuer. Sie war
in das kleine Zimmer eingeschlossen — umlagert von Phantomen,
die ihre Angst heraufbeschworen hatte. Doch auch hier war sie
nicht vollkommen sicher. Hin und wieder fand der Wind durch eine
Ritze in den Fensterrahmen einen Weg und bewegte hinter ihr die
Vorhänge. Sie hörte das Rascheln und fuhr mit einem Ruck zu-
sammen, der ihr durch Mark und Bein ging und sie vor Angst ganz
schwach machte.

Es war noch nicht elf Uhr, doch sie war sich schon darüber klar.

Mädchenkopf
Register
Otto Herbig: Mädchenkopf
Michael Joyce: Nachtgespenster
 
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