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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 34.1929, (Nr. 1-52)

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Nr. 34
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https://doi.org/10.11588/diglit.6761#0543
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3 4. JAHRGANG

1929 / NR. 34

HARUN AL RASCHID

VON KARL BURGER

Wenn ich eins? vor Gottes Angesicht treten werde, dann werde
ich meine Augen zu Boden schlagen müssen. . .

„Johann Oplatek," wird er -sagen, „du bist jener stellenlose
Friseurgehilse Johann Oplatek, welcher..." — er wird den Satz
nicht zu Ende sprechen. Aber er wir>d seinen Blick wie ein glühendes
Lotblei in die Tiefen meiner armen Seele senken. Bis in die ge-
heimsten, verborgensten Winkel meiner armen Seele. Bis dorthin,
wo jenes entsetzliche Bild versteckt liegt, das meinen Augen unaus-
löschlich eingebrannt ist. DaS mich verfolgt zu jeder Stunde, bei
Tag und bei Nacht, Und das ich nie, nie, nie aus meiner Erinnerung
werde reißen können. Ich werde es in mir tragen — allgegenwärtige,
unsägliche Pein bis zum letzten Atemzug...

-V

^ r a u ni er cl

D. Borgt

Die graue, lustlos herandämmernde Morgenstunde, wie sie ähnlich
öde nur an der Peripherie der großen Städte aus blinden, fröstelnden
Herbsthimmeln herniederrinnt. Don fahlen Nebelgespenstern träg
durchkrochen, von Fabriksirenen durchwimmert. Ein Neontag-Morgen.
Die Luft ist feucht. Man gräbt die Fäuste in die Hosentaschen,
zieht die Schultern hoch, spürt eine unangenehme Leere im. Magen,
einen ekelhaften Geschmack im Mund und beißt die Zähne zusammen.

Ich ging der Kagraner Brücke zu. Da sehe ich aus eininal Menschen
vor mir laufen. Zwei, drei... Männer, Weiber, Halbwüchsige.
Eine merkwürdige Unruhe wirbelt die Straße auf. Auf der Brücke
ballt sichs zu einem Hausen. Ich laufe mit. Die Menge drängt
ans Geländer und starrt lautlos zum Wasser hinunter. Ich sehe...
auch die Uferböschung hinab stehen Menschen gedrängt. Alles ganz
still. Unten aber, halb noch im Wasser liegend, ein Kleiderbünde! ...
ein Mädchenkörper ... eine Leiche.

Kaltes Grauen kroch in mir hoch. Ja, ja, dachte ich, eine Leiche...
Und fühlte mich völlig schuldlos in diesem Augenblick; so als ob
das eine fremde Sache wäre, die dort unten leblos liegt. Stand
nicht anders als die andern, deren Gesichter vom sinnlosen Hinstarren
einen schlaffen, blöden Ausdruck annahmen. Drängte näher... die
Böschung hinab ... schaute... schaute... Eö waren wohl Ewigkeiten
vergangen, bis sich der heisere Schrei aus meiner Kehle rang. Bis
ich wußte — daß ich ein Mörder bin!

„Herr Kommissär, verhaften Sie mich! Ich bin Harun al Raschid,
der Mörder!" Das weiß ich noch, daß ich das schrie. Dann sank
ich in einen bodenlosen Abgrund. — — — — — — — — —

Harun al Raschid? Warum ich das schrie? Ja, das ist es eben.
Das hätte ich nicht sagen dürfen. Aber ich war meiner Sinne nicht
mächtig, als ich das Mädchen dort unten tot liegen sah .. . der Kopf
hing hintenüber, das wächserne Gesicht war von den nassen, wirren
Strähnen des dunklen Haars halb verdeckt, die dünne, weiße Bluse
klebte an ihrem schmalbrüstigen Leib, nein, ich war meiner Sinne nicht
mächtig, als ich sie erkannte. Und als die gräßliche Erkenntnis meiner
Schuld mir blitzgleich durchs Hirn fuhr. Es stürzte der Himmel, es
brach meine ganze Welt über mir zusammen.

Ich hätte einfach sagen müssen: Herr Kommissär, ich bin am Tod
dieses Mädchens schuld, ich, John Oplatek, stellenloser Friseurgehilse,
geboren am soundsovielten 1698 in Rohatez, zuständig nach Wien,
wohnhaft im Männerheim, Wien 17, Wurlitzergasse ... DaS hätte
ich sagen müpen. Dann hätte man mich ernst genommen, und meine
Schuld hätte die gerechte Sühne gefunden. Die gerechte Sühne? O,
ich weiß nicht mehr, was Recht ist und was Unrecht, was gut und
was böse. Es ist sehr schwierig, auf Erden das Rechte zu tun. Oder
ich versteh es -einfach nicht. Ich bin ganz irre geworden.

Es hat natürlich dann all das Fragen keinen Sinn gehabt. Auf der
Polizei: Wer dieses Mädchen sei, wie es heiße und wo es wohne ...
Ich kenne es eigentlich nicht. Das mußte ich zugeben. Ich wußte, daß
sie Mitzi hieß; das war alles. Am Tag vorher hatte ich nicht einmal
das gewußt. Ob ich mit ihr ein Verhältnis gehabt habe und wie
lange... Nein. Ich habe kein Verhältnis mit ihr gehabt; ich sagte
doch schon, daß ich sie am Abend vor ihrem grauenhaften Ende zum
erstenmal in meinem Leben gesehen hatte.

Und auf der „Beobachtung": Ob ich Napoleon gekannt hätte. Er
wäre doch ein Zeitgenope Harun al Raschids gewesen — oder nicht?
Irre man? Ob ich nicht Aufschluß darüber geben könne... Worauf
ich nur erwidern konnte: „Herr Profestor, ich bin ein einfacher Friseur-
gehilfe, stellenlos, arm, ungebildet. Ich habe mich nie für Geschichte
interessiert. Ouälen Sie mich nicht mit Jahreszahlen, mit GeburtS-
Index
Richard Otto Voigt: Träumerei
Karl Burger: Harun al Raschid
 
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