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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 34.1929, (Nr. 1-52)

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J U G E

3 4. JAHRGANG

N D

1929 / NR. 38

DIE SEKUNDE

VON FLORIAN SEIDL

„O", sagte er, blies den Rauch der Zigarette von sich und sah auf
seine Hände mit einem Blick des Wohlgefallens, als hätte er sie noch
nie gesehen und nichts anderes zu denken, als daß sie schmal und gut
geformt mären, „meine Mutter war eine Deutsche, nur mein Vater
war Russe. Es ist keine gute Mischung, und vieles liegt darin be-
gründet. Vieles.

Doch davon ist nicht zu sprechen.

Also zurück. Sekunden gibt es, sagte ich, in denen das Leben liegt,
Entscheidung, blitzschnell, lieber alles.".

Er sann. Zukunft? Vergangenheit?

Wir saßen in einem Cafe Unter den Linden, hatten die Dassen vor
uns, schauten auf die Frauen rundum und kannten uns kaum.

„Jetzt denken Sie: Krieg", fuhr er fort. „Was ist das schon, Krieg!
Auch ich war dabei. Aber das ist es nicht. Gewiß, da wiegt die
Minute, zählt der Augenblick. Ich kenne das. Was ist zu tun, zu
entscheiden? Du stehst in der Masse, du wartest, du zagst, hast Glück,
vergißt, wartest auf's neue und so durch die Jahre. Was ist das schon?
Dies ist doch kein Krieg!

Aber später. Bei uns. In Rußland. Ich focht unter Denikin. Bei
den Weißen. Warum bei ihnen? Je nun. Ich sagte schon, es ist keine
gute Mischung in mir, und wohin man gerät, da bleibt man.

DaS war Krieg. Du bist im Lager und um dich der Feind. Wo?
DaS weiß man nicht. Du reitest. lieber die Steppe. Bist du im
Krieg? Es muß so sein, denn du bist voll Sorge und Angst, bist
gespannt und bereit, auf der Lauer. Du reitest allein. In Kleidern
eines Arbeiters, bist Kundschafter, kommst in Dörfer, hockst in den

Schenken, sauf, Bruder, trink! Hinter dir Denikin. Mädchen um dich,
lind wieder zu Pferd über die Steppe. Endlos der Himmel. Immer
der Himmel. Traurig wirst du und reitest und reitest. Kommst du
vorwärts? Warum denn treibt es dich vorwärts, Brüderchen, immer
zu? Du singst und du schweigst und schläfst wohl auch ein auf dem
Pferde, plötzlich schlummerst du ein und schrickst dann empor. Du
weinst, o, so traurig bist du und so voll Mitleid mit dir und freust
dich deiner Trauer und wirst schlast davon, so wundersam müde.
Reitest du drei Tage, vier, reitest du länger schon? Am Abend ein
Dorf und ein Lied und die Nacht. Wie gestern, wie heute, wie morgen.
Was bleibt zu wünschen, was bleibt zu tun?

Du kommst in die Stadt und weißt, hierher bist du gesandt, Denikin
kommt hinter dir. Den siehst du und jenen. Ihr laart am Lagerfeuer
gemeinsam gelegen, doch hier kennt ihr euch nicht. Du ziehst das Roß
hinter dir nach und gehst in die Schenken. lind wäschst dich, bist
Mensch. Du gehst in die Gasthäuser, hier kannst du rauchen, trinkst
Kaffee. Charkow heißt die Stadt, die Roten sind Herr in ihr.

Du bist schlau, bist auf der Wacht. Was sollen sie dir? Zum Ver-
gnügen bist du gekommen, kaufst Dirnen, säufst, gehst zu Bette,
kümmerst dich um nichts und hast die Augen überall, hast tausend
Augen. Ein Weib hängt sich an dich. O, ein Weib! Wo kommt sie
her? Aus Moskau vielleicht? Sei klug! Sie umstrickt dich, du bist
berauscht. Warum nicht? Immer zu, nimm und raff! lim dich die
Steppe, die Schwermut; hier das Leben, die Lust. Sie hängt an dir,
trunken seid ihr. Wie sie sich wiegt in den Hüften. Ganz von Sinnen
bist du. Und hast Augen, lieberall Augen. Hinter dir Denikin. Die
Register
Florian Seidl: Die Sekunde
Max Mayershofer: Zeichnung ohne Titel
 
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