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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 34.1929, (Nr. 1-52)

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J U G E

34. JAHRGANG

N D

1929 / NR. 41

FRANZ HESSEL
Cjijela P lern, die feil idh nidii

Gisela? Nein — die seh ich nicht mehr.
Sie ist inzwischen eine LiebeSheldin geworden.
Auch schöner als damals, sagen die Leute.
Eine Persönlichkeit ist sie geworden. Als wir
zusammen waren, sprach man noch nicht von
ihr.

Kindische Spiele trieben wir beiden Er-
wachsenen, Schwarzer Peter und „Ich seh
etwas, was du nicht siehst" und das merk-
würdige Kartenspiel, das „Tod und Leben"
heißt. Im Ersenbahncoupe machten wir den
Mitreisenden Neuvermählte vor, die aus der
Hochzeitsreise sind. Wir sahen im Neisebuch
nach, ob die Aussicht rechts oder links sei und,
während wir ins Buch sahen, küßten wir uns
deutlich-verstohlen. Waren wir im Coupe
allein und der Zug hielt an einer Station,
stellten wir mimisch am Fenster kinderreiche
Familien dar — mit Zurücksprechen und
Ouieken —, damit niemand einsteige. In
Wirtshaus und Trambahn erfanden wir den
Nachbarn und den Gegenübersitzenden aus-
führliche Lebensgeschichten und bestimmte Ge-
wohnheiten.

Kindische Geschenke machten wir uns. In
der Papierhandlung, die auch Ausschneide-
puppen und.Wunderknäuel führt, suchte Gisela

\

Zeichnungen von Martin Menzel

mir daS Kästchen mit dem Stehaufmännchen
aus, das wir den „Kastengeist" nannten, und
ich fand für sie das Krokodil, dem ein Neger
mit den Beinen im Schlund steckt. Gierig sah
das Untier aus, aber sie meinte, es wolle
den Neger nicht ernstlich auffressen.

Von unseren Kinderstuben erzählten wir
einander und prahlten mit dem, was jedem
als Kind gehört hatte. Ich wurde sehr aus-
führlich über meine Soldatenmusikkapelle mit
den großen rundgearbeiteten Pfeifen und
Trommeln. „Habt ihr auch Stricknadeln beim
Soldatenspielen gehabt?" fragte Gisela. —
„Nein. Wozu?" — „Wie? Ihr habt keine
Stricknadeln gehabt?" Sie sah mich so ver-
ächtlich an, wie später, als ich noch immer
nicht gemerkt hatte, daß sie einen anderen
ernstlich liebte.

Einmal haben wir festgestellt, daß wir beide
am Sonntag geboren sind, und auf -ihrem
Tisch stand ein bunter Teller mit einer fran-
Aschen Inschrift:

?our etre boureux,

I)OrNON8 N08 vooux.

Solcher Mahnung bedurfte es gar nicht. Wir
hatten kaum einen anderen Wunsch, als daß
eS immer fo bliebe. Doch hat sie vielleicht
schon damals einen mir unbekannten Liebes-
kummer gehabt. Ich weiß es nicht, mit mir
hat sie gelacht. Immer mußte etwas angestellt
werden. Laternen drehten wir aus wie junge
Studenten. Im Regen, mitten auf dem
Straßendamm, zog sie den Schuh ab und
hüpfte auf einem Bein, Unter Hochbahn-
bogen knickte sie plötzlich ein und spielte alte
Humpelbettlerin. Als ich wettete, sie würde
sichs nicht getrauen, bettelte sie vor der Terrasse
des Sommerhotels so ähnlich und elend, daß
alle ihr Almosen geben wollten.

Auf dem Verdeck des -Omnibus stüsterte sie
mir zu: „Darf ich ,Steiniget ihn!' machen?"
— „Um Gottes willen!" sagte ich. DaS war
nämlich ein Schrei, den sie dem Darsteller des
Daniel in Hebbels „Judith" abgelauscht hatte,
dem Stummen, der plötzlich die Rode wieder-
bekommt und gellend aufbrüllt. Gisela weidete
sich an meiner Furcht, und mit. einmal schrie
sie wirklich ihr „Steiniget ihn!" Ich schaute
feige auf die Straße hinunter, als ob es von
da käme. Erschrockene Fahrgäste sahen sich
um. Aber niemand schritt ein oder machte
Vorwürfe.

Tapfer war sie. Als eine Ratte aus dem
Rinnstein an ihrem Fuß vorbeifuhr, erschrak

mehr . . .

sie nicht. „Du schreist nicht auf?" verwunderte
ich mich. „Weshalb?" — „Frauen schreien
doch, wenn sie Ratten sehen." — „Müssen sie
daS?" Nun vielleicht hat sie es inzwischen
gelernt.

Kam sie, mich zu besuchen, die schmale
Hinterhaustreppe zu meiner hochgelegenen
Wohnung heraufgestürmt, so fand ich sie beim
Türöst'nen immer noch ein paar Stufen höher
als nötig, ein paar Stufen zuviel, ein paar

Stufen Uebermut! Da stand sie, atemlos wie
das Glück.

Eh sie dem Einen ganz gehörte, wie war sie
befreundet mit Dingen und Tieren! Als vor
der Wackeldroschke, die uns in den Park fuhr,
das Pferdchen stockte und nicht weiter wollte,
meinte sie, es müsse etwas hinterm Scheuloder
am Auge haben. Sie ließ halten und behandelte
mit den geliebten Fingern das Gesicht des
Tieres. Bäume umschlang sie zärtlich, auf
Büsche klopfte sie derb. „Büsche darf man
necken", erklärte sie, „Bäume nicht."

Spiegel waren ihr damals noch nicht strenge
Richter und fleißige Gehilfen. Kurzweil waren
si'e ihr. Lieber als das Fest war uns Verkleiden
und Anmalen vor dem Spiegel. Unvergeß-
licher Abend, als sie unserer vier aus meinem
bißchen Garderobe kostümierte, der Cora
Küchenschürze und blaues Kopftuch meiner
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Franz Hessel: Gisela? Nein, die seh ich nicht mehr...
Martin Menzel: Zeichnungen ohne Titel
 
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