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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 34.1929, (Nr. 1-52)

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https://doi.org/10.11588/diglit.6761#0686
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JUGEND

HELENCHEN

VON ARKADIJ AWERTSCHENKO

ÜBERTRAGEN VON FEGA FRISCH

In bcr Dämmerung eines sanft dahinsterbenden Herbsttages erschien
bei Irina Wladimirowna Owragolva ein kleines Mäbchen von zwölf
Jahren — Helenchen Kegitsch.

Nachdem sie im Vorzimmer die graue Jacke und die Schulmühe
abgelegt hatte, zupfte Helenchen bas Band in dem langen, blonden
Zopf Zurecht, überzeugte sich, daß alles an ihr in Ordnung war und
trat in das unbeleuchtete Zimmer, wo Irina sich befand.

„Wo sind Sie denn?"

„Wer ist denn da? Ah! Die Schwester des Bruders. Wir sind ja
ein wenig miteinander bekannt. Guten Tag, Helenchen!"

„Guten Tag, Irina Wladimirowna. Hier ist ein Brief von meinem
Bruder. Wenn Sie wollen, lesen Sie ihn in meiner Gegenwart, wenn
nicht, so. kann ich fortgehen."

„Nein, warum denn? Bleiben Sie nur bei mir, Helenchen. Ich bin
so verstimmt. . . Einen Augenblick."

Sie schaltete die elektrische Lampe mit dem perlmutterfarbencn
* Schirm ein und versenkte sich in bie Lektüre des Briefes.

Sie hatte zu Ende gelesen. . . Die Hand mit bem Brief siel schlaff
unb kraftlos auf die Knie, und der Blick starrte trüb und leblos auf
bie beleuchtete Ecke eines vergoldeten Rahmens.

„Aljo. . . alles ist aus. Er verläßt mich."

Ihr Kopf sank immer tiefer.

Helenchen saß, vom Halbdunkel verhüllt, die übereinandcr-
gcschlagenen Füße in den Lackschuhen vor sich auSgestreckt, den Kopf
auf die nu't den Innenflächen aufeinandergelegten Hände gestützt.

Und plötzlich ertönte im Dunkel ihr nachdenkliches Stimmchen, hell
w'ie der Klang eines kristallenen Pokals gegen einen anderen.

„Eine seltsame Sache, das Leben."

„Wa—a—S?" Irina Wladimirowna fuhr auf.

„Ich sage, ein seltsames Ding ist unser Leben. Manchmal ist einem
komisch und manchmal traurig zu Mute."

„Weshalb sagen Sie das, Helenchen?"

„Nun, ich sehe Sie an und sag's. Ihnen ist doch jetzt übel zu Mute,
oder nicht?"

„Woraus schließen Sie das?"

„Na, und dieser Brief, hat er Ihnen vielleicht Freude gemacht?"

„Kennen Sie. . . den. . . Inhalt des Briefes?"

„Wenn ich's nicht wüßte, würde ich's nicht sagen."

„Hat Ihnen Nikolaj den Brief gezeigt?"

„Koljka ist ein Dummkopf. Er denkt nicht daran, mit mir za
sprechen oder mich um Rat zu fragen. Nichts hat er mir gezeigt. Erst
wollte ich mich gar nicht dazu hergeben, Ihnen den Brief zu bringen,
dann aber tat mir Koljka leib. Er ist komisch und burnm."

„Wie seltsam sind Sie doch, Helenchen . . . Sie sind erst zwölf Jahre
und sprechen wie eine Erwachsene."

„Ja, ich muß überhaupt viel denken. Man muß doch für alle sorgen,
daß sie cS gut haben. Meinen Sie vielleicht, es ist leicht?"

JrinaS Blick siel wieder auf den Brief, und ihr Kopf neigte sich.

„blnd Sie, meine Liebe, Sie sind aber auch gut! Was für ein Teufel
hat Sie gezwickt, mit diesem Esel Klimuchin sich ins Theater zu
schleppen? Nötig haben Sie das, wie? Ich weiß ja doch, daß Sie
ihn nicht lieben. Sie lieben ja nur meinen Koljka — warum tun Sie
also so etwas? blnd jetzt haben Sie die Bescherung."

„Also deswegen .. . Gott, wegen einer solchen Lappalie! Was ist
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Arkadij Timofejewitsch Awertschenko: Helenchen
Ernst Moritz Engert: Genoveva
 
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