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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 34.1929, (Nr. 1-52)

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Nr. 48 (Politik und Politiker)
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https://doi.org/10.11588/diglit.6761#0767
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Frau v.
(Zeichnung

Kardorff-Oheimb
von Rudolf Großmann)

sein Verständnis für das Seeli-
sche des Gegners waren es ge-
rade, die immer mehr zu der
Überzeugung brachten: ganze

Völker können aus Feindschaft
zu einander st'nden, wenn ihre
Minister eS können!

Ob von diesen beiden Mini-
stern einer «dem andern mißtraute,
ob auch das Berühren des Seeli-
schen nur ein Mittel der Politik
ihnen war, erfuhr ja niemand.

Aber angenommen selbst, ge-
heime Skepsis quäle ihn, so ge-
schah es nicht deswegen, daß der
Minister bisweilen stockte und
im Leeren suchte.

Ihn quält ein Leiden, sagten
manche, ein physisches Leiden.
Er hat seinen Körper ausge-
braucht im Dienste für das All-
gemeinwohl! —

Auch diese Stimmen hatten
bl n recht.

Seiner Physis schenkte der
Minister schon längst keine Be-
achtung mehr.

Trotz aller praktischen Erfolge
lebte er schon längst theoretisch
gewissermaßen. bind alle Hemm-
nisse, von der Physis her, ließen
sich mit den Mitteln der „fort-
schreitenden" Therapie irgendwie
überwinden.

Nein! Das Leidige war viel-
mehr: Der Minister, der dem
Leid eines ganzen Volkes ent-
gegenarbeitete, konnte sein eige-
nes, nur i h m wesentliches Leid
nicht mehr erkennen.

Er glaubte an seine Seele nur
etwa in dem Sinne, wie man
in der Kirche glaubt. Er hatte,
ehe er die politische Laufbahn be-
trat, seine Seele gleichsam zur
Aufbewahrung gegeben und

Gegner mit alten, schönen Redensarten feine
Politik, also den Fortschritt, aufhalten woll-
ten, brachte er sie stets mit neuem Tatsachen-
material zum Weichen.

Daß er den Menschen immer wieder mit
Tatsachen, mit etwas Realem, kam, nützte
ihm zum Erfolge mehr, als ihm der Vor-
wurf schadete, den jeder Politiker sich ge-
fallen lassen muß: das Wechseln der Ideale.
Dieser Vorwurf wird ja im allgemeinen nicht
sehr ernst genommen, da den meisten Men-
schen ein Ideal nicht das Wichtigste ist; und
wer eins hat und verwirklichen will, kann es
doch nur, indem er politisch handelt, also zeit-
weise auch zu einem Ideal sich bekennt, das
dem seinen entgegengesetzt ist.

AuS all dem darf man jedoch nicht den
Schluß ziehen, daß der Minister ein brutaler
Realist war, der auf Seelisches keinen Wert
legt!

Es war ihm, dem während seiner Lauf-
bahn Tausende und aber Tausende persönlich
nahegekommen, natürlich nicht entgangen, daß
jeder einzelne so etwas wie einen schwachen
Punkt hatte, von dem aus man ihn samt
seiner Gefolgschaft, lenken konnte, wohin man
wollte. Er hatte, wie man so sagt, es bald
herauSgekriegt, den Menschen bei der Seele
zu packen. Das Berühren des Seelischen im
richtigen Moment kann in der Politik ebenso
wichtig werden wie das Herunterdrücken eines
Hebels in der Funktion einer Maschine. Diese
Erkenntnis machte der Minister sich zunutze.
War doch gerade ihm der Fortschritt zu ver-
danken, daß die Diplomatie nicht mehr un
Notenwechsel sich erschöpfte, sondern daß
über die heikelsten Fragen der Allgemeinheit
vertrauliche Aussprache, persönliche Fühlung-
nahme stattfand von Mensch zu Mensch.
DeS Ministers Liebenswürdigkeit, sein Takt,
Register
Rudolf Großmann: Frau v. Kardorff-Oheimb
Alfred Springer: Singende Demonstration
 
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