DAS MÄRCHEN VON DEM
verirrten STRASZENBAHNWAGEN
VON FRIEDRICH KARIN TH Y
Mit Zeichnungen von Karl Holtz
u möchtest also gern wissen, lieber Steffl, woher die Straßen-
bahnwagen kommen? Die kommen aus der großen Halle im
Zentralbahnhos."
„Was ist denn -das, die große Halle im Zentralbahnhos?"
„Die Halle im Bahnhof? Na pass' mal auf. Weißt du, die Ge-
schichte ist so wie bei den kleinen Buben. Die maßen in die Schule
gehen; auch die Bäume gehen in die Schule, in eine Baumschule usw.
Die Halle im Zentralbahnhos ist ein großer Raum, viel größer als
das große Speisezimmer. In dieser Halle, da gehen nun die Straßen-
bahnwagen in die Schule; dort lernen sie, dort entwickeln sie sich, bis
dann ein großer Straßenbahnwagen aus ihnen wird..."
„Ja, haben denn die kleinen Straßenbahnwagen auch einen Papa
und eine Mama? ..."
„Hast du noch nicht auf der Straße zwei Straßenbahnwagen ge-
sehen, lieber Stestl, die miteinander verbunden waren und so herum-
fuhren? Das sind die Eltern von den kleinen Straßenbahnwagen.
Natürlich sind die jungen Straßenbahnwagen noch ganz winzig klein
... so kleine Schienen, daß sie auf ihnen fahren könnten, gibt es gar
nicht, und darum dürfen sie auch die Halle noch nicht verladen. Wenn
ein kleiner Straßenbahnwagen zur Welt kommt, so ist er ungefähr
.so groß wie ein kleiner Koffer. Er ist dann noch ganz grün und kann
kaum auf seinen Rädern stehen. Fünf bis sechs solche Straßenbahn-
wagen kommen immer aus einmal zur Welt, und dann springen sie um
ihre Mama herum, und die läßt sie trinken. . ."
„Straßenbahnwagen trinken?
WaS trinken sie denn?"
„Na, die trinken hakt elek-
trischen Strom. Von diesem
werden sie dann recht groß
und stark. Mit der Zeit wer-
den sie gelb, ihre Fenster, ihre
Bänke, ihre Lampen wachsen.
Eines Tages werden sie dann
so groß, daß sie schon in die
Schienen passen, und dann läßt
man sie lausen.
Ach, das ist -ein lustiger
Anblick, wenn so ein kleiner
Straßenbahnwagen, der noch
kaum fahren kann, um seine
Mama her um taumelt und er-
schreckt wieder in die Halle
zurückläuft, wenn jemandFrem-
der in die Nähe kommt. Dann
läutet er ängstlich mit ganz
feiner Stimme, das klingt ähnlich wie das Piepsen eines Küchleins...
Eines Nachts, lieber Steffl, ist einmal so ein kleiner Straßenbahn-
wagen aus seiner Halle durchgebrannt. Er wollte aus den Ring hin-
aus, weil er sich sehr nach der großen Welt sehnte, von der ihm seine
Amme viel erzählt hatte. In einem unbewachten Augenblick lief er bei
der Tür hinaus auf Schienen, die nach Theresienstadt führten ...
Eine Zeitlang ging die Sache wunderschön. Der kleine Straßenbahn-
wagen staunte über das viele Schöne und Glitzernde, das er in den
Straßen sah; auf einmal verlor er aber die Schienen unter sich und
verirrte sich in eine Nebengasse. Er sah sich furchtsam um, schlich an
einige HauStore, um einen Blick hineinzuwerfen, und lief dann schnell
wieder weg ... Er lief eine Stiege hinauf, wurde schwindlig und kam
wieder zurück und lief dann zum Donauufer. Dort bummelte er eine
lange Zeit, besah sich im Strom, setzte sich auf Stufen, die zum Fluß
führten und pritschelte mit den Vorderrädern im Wasser, wobei er
traurig ein altes Straßenbahnwagenkinderlied klingelte, das ihm sein
Lehrer beigebracht hatte. Dann lief er über die Brücke, stieg auf den
Gellertberg und erschrak heftig, als es ganz finster um ihn wurde, weil
es schon sehr spät war und man die Lichter verlöschte. ..
Es begann zu regnen. Verzweifelt und müde setzte sich der kleine
Straßenbahnwagen auf einen Stein und be-
wußte schon sehr hungrig sein, denn seine kleinen Lampen leuchteten
schon ganz matt. In einer kleinen Gasse blieb er stehen und sah aus
den Ring hinaus, auf dem gerade ein einsamer Mann daherkam. Der
Kleine erinnerte sich daran, wie ein Straßenbahnwagen einen Menschen
überfallen soll; das hatte er in der Schule gelernt. Man versteckt sich
in einer Seitengasse, und wenn ein Mensch vorübergeht, dann springt
man schnell und unerwartet aus ihn ...
Er duckte sich lauernd an die Wand, schätzte die Entfernung, die ihn
noch von dem Menschen trennte, ab. Als dieser vorüberkam, sprang er
hervor. Im selben Mo-
ment dreht sich der Mensch
— es war ein sehr dicker,
älterer Herr — um. Sie
stießen zusammen. Im
nächsten Augenblick hörte
man den kleinen Straßen-
bahnwagen ausschreien.
Der Mann war ihm aus
den Kopf getreten.
„Fertig!" schrie der
Straßenbahnwagen, aber
eS war schon zu spät. Der
Erwachsene hatte den kopf-
losen, kleinen Straßen-
bahnwagenüberfahren. Er
starb neben den Schienen,
die man nie verlassen darf,
lieber Steffl!..."
Autor Übersetzung aus dem
Ungarischen von Viktor
Scheide - Sanguessa
816
verirrten STRASZENBAHNWAGEN
VON FRIEDRICH KARIN TH Y
Mit Zeichnungen von Karl Holtz
u möchtest also gern wissen, lieber Steffl, woher die Straßen-
bahnwagen kommen? Die kommen aus der großen Halle im
Zentralbahnhos."
„Was ist denn -das, die große Halle im Zentralbahnhos?"
„Die Halle im Bahnhof? Na pass' mal auf. Weißt du, die Ge-
schichte ist so wie bei den kleinen Buben. Die maßen in die Schule
gehen; auch die Bäume gehen in die Schule, in eine Baumschule usw.
Die Halle im Zentralbahnhos ist ein großer Raum, viel größer als
das große Speisezimmer. In dieser Halle, da gehen nun die Straßen-
bahnwagen in die Schule; dort lernen sie, dort entwickeln sie sich, bis
dann ein großer Straßenbahnwagen aus ihnen wird..."
„Ja, haben denn die kleinen Straßenbahnwagen auch einen Papa
und eine Mama? ..."
„Hast du noch nicht auf der Straße zwei Straßenbahnwagen ge-
sehen, lieber Stestl, die miteinander verbunden waren und so herum-
fuhren? Das sind die Eltern von den kleinen Straßenbahnwagen.
Natürlich sind die jungen Straßenbahnwagen noch ganz winzig klein
... so kleine Schienen, daß sie auf ihnen fahren könnten, gibt es gar
nicht, und darum dürfen sie auch die Halle noch nicht verladen. Wenn
ein kleiner Straßenbahnwagen zur Welt kommt, so ist er ungefähr
.so groß wie ein kleiner Koffer. Er ist dann noch ganz grün und kann
kaum auf seinen Rädern stehen. Fünf bis sechs solche Straßenbahn-
wagen kommen immer aus einmal zur Welt, und dann springen sie um
ihre Mama herum, und die läßt sie trinken. . ."
„Straßenbahnwagen trinken?
WaS trinken sie denn?"
„Na, die trinken hakt elek-
trischen Strom. Von diesem
werden sie dann recht groß
und stark. Mit der Zeit wer-
den sie gelb, ihre Fenster, ihre
Bänke, ihre Lampen wachsen.
Eines Tages werden sie dann
so groß, daß sie schon in die
Schienen passen, und dann läßt
man sie lausen.
Ach, das ist -ein lustiger
Anblick, wenn so ein kleiner
Straßenbahnwagen, der noch
kaum fahren kann, um seine
Mama her um taumelt und er-
schreckt wieder in die Halle
zurückläuft, wenn jemandFrem-
der in die Nähe kommt. Dann
läutet er ängstlich mit ganz
feiner Stimme, das klingt ähnlich wie das Piepsen eines Küchleins...
Eines Nachts, lieber Steffl, ist einmal so ein kleiner Straßenbahn-
wagen aus seiner Halle durchgebrannt. Er wollte aus den Ring hin-
aus, weil er sich sehr nach der großen Welt sehnte, von der ihm seine
Amme viel erzählt hatte. In einem unbewachten Augenblick lief er bei
der Tür hinaus auf Schienen, die nach Theresienstadt führten ...
Eine Zeitlang ging die Sache wunderschön. Der kleine Straßenbahn-
wagen staunte über das viele Schöne und Glitzernde, das er in den
Straßen sah; auf einmal verlor er aber die Schienen unter sich und
verirrte sich in eine Nebengasse. Er sah sich furchtsam um, schlich an
einige HauStore, um einen Blick hineinzuwerfen, und lief dann schnell
wieder weg ... Er lief eine Stiege hinauf, wurde schwindlig und kam
wieder zurück und lief dann zum Donauufer. Dort bummelte er eine
lange Zeit, besah sich im Strom, setzte sich auf Stufen, die zum Fluß
führten und pritschelte mit den Vorderrädern im Wasser, wobei er
traurig ein altes Straßenbahnwagenkinderlied klingelte, das ihm sein
Lehrer beigebracht hatte. Dann lief er über die Brücke, stieg auf den
Gellertberg und erschrak heftig, als es ganz finster um ihn wurde, weil
es schon sehr spät war und man die Lichter verlöschte. ..
Es begann zu regnen. Verzweifelt und müde setzte sich der kleine
Straßenbahnwagen auf einen Stein und be-
wußte schon sehr hungrig sein, denn seine kleinen Lampen leuchteten
schon ganz matt. In einer kleinen Gasse blieb er stehen und sah aus
den Ring hinaus, auf dem gerade ein einsamer Mann daherkam. Der
Kleine erinnerte sich daran, wie ein Straßenbahnwagen einen Menschen
überfallen soll; das hatte er in der Schule gelernt. Man versteckt sich
in einer Seitengasse, und wenn ein Mensch vorübergeht, dann springt
man schnell und unerwartet aus ihn ...
Er duckte sich lauernd an die Wand, schätzte die Entfernung, die ihn
noch von dem Menschen trennte, ab. Als dieser vorüberkam, sprang er
hervor. Im selben Mo-
ment dreht sich der Mensch
— es war ein sehr dicker,
älterer Herr — um. Sie
stießen zusammen. Im
nächsten Augenblick hörte
man den kleinen Straßen-
bahnwagen ausschreien.
Der Mann war ihm aus
den Kopf getreten.
„Fertig!" schrie der
Straßenbahnwagen, aber
eS war schon zu spät. Der
Erwachsene hatte den kopf-
losen, kleinen Straßen-
bahnwagenüberfahren. Er
starb neben den Schienen,
die man nie verlassen darf,
lieber Steffl!..."
Autor Übersetzung aus dem
Ungarischen von Viktor
Scheide - Sanguessa
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