hatte ihn die Lanze auf der Nase getroffen.
Die Ägypter eilten ihrem Führer zu Hilfe.
Die Äthiopier, auch nicht faul, versuchten sich
der Waffen der andern zu bemächtigen.
Aus dem anwachsenden Tumult klang daS
Entsetzen des Chors .und der Amneris wie
ein höhnisches Echo: „Ihr Vater — in unfern
Händen!" Mutig mühte sich Ra-dameS, den
Kampf der Sieger and Besiegten zu trennen,
schob seine breite Heldengestalt zwischen sie.
Vergebens. Wer achtete von denen, die um
ihre persönliche Ehre fochten, noch auf seine
Feldherrnembleme.
Das Pferd vor dem zweirädrigen Wagen,
ein sehr frommes Tier, das die Musik
still geduldet hatte, konnte den Kampf nicht
vertragen, es mischte sich in den Streit,
schnaubte, scheute, ging durch. Der Wagen
ffel um, der König wurde von einem Huf-
schlag getroffen. Aida floh Arm in Arm mit
ihrer Feind-in Amneris. AmonaSro, statt mit
Melancholie zu singen: „Ich Hab gekämpft,
wir unterlagen", rannte verzweifelt auf und
ab, hielt sich den Kopf und schrie m die
Kulissen: „Vorhang, Vorhang!"
Die Musiker spielten wie auf einem unter-
gehenden Schiff weiter, als sei nichts ge-
schehen, aber die Instrumente gerieten immer
-mehr auseinander, der Kapellmeister taktierte
wie eine an allen Schnüren bewegte Ma-
rionette, in der Leidenschaft warf er sein
Pult um. DaS Publikum, das ohnehin schon
von der Empörung zum Lachen übergegangen
war, applaudierte nun stürmisch ironischen
Beifall. Der Tumult auf der Bühne wuchs,
dicke Staubwolken erhoben sich bereits über
dem kämpfenden Getümmel. Endlich fiel der
Vorhang. Mitten drin wurde eine durch-
dringende Stimme hörbar, wahrscheinlich ge-
hörte sie dem, der die erste Lanze gezückt
hatte: „Ich werd euch geben, uns ,besiegte
Feiglinge' zu schimpfen."
Durch diesen Helden am Unrechten Platz
war die Opernaufführung unmöglich ge-
worden. Alles strömte lachend, wie nach
einer großen Volksbelustigung, ms Freie.
In den abendlichen Straßen wurden bereits
von nicht Dabeigewesenen die wildesten Ge-
rüchte kolportiert und geglaubt. Radames
habe ein Eifersuchtsattentat auf Aida be-
gangen und ihr die Nase abgebissen — ein
Amerikaner in einer Loge sei wahnsinnig ge-
worden und habe geschossen — Bolschewiki
hätten auf der Bühne die Internationale
angestimmt und seien von Faschisten an-
gegriffen worden. Andere, die näher den
Ereignissen lebten, erzählten wieder, der Streit
hätte schon vor Beginn der Szene angehoben,
weil schon da sich die Darsteller der sieg-
reichen Truppen über die Besiegten und zu-
dem noch Gefangenen lustig gemacht hätten.
DaS Aufgehen des Vorhangs hätte den Streit
scheinbar beendet, aber in Wirklichkeit sei er
weiter gegangen, bis es zum Kampf der Ver-
höhnten gegen >ihre blnterdrücker gekommen
sei. Strenge Untersuchung sei bereits ein-
H. Marxen
Philosophie nach der Silvesterfeier
„Wenn sich daS Glück so pünktlich an Ter-
mine binden würde, wie der Ncensch an den
Sylvesterpunsch, könnte man noch beruhig-
ter ins neue Jahr blicken!"
geleitet. Zwölf Personen seien verhaftet und
abgesührt worden. Noch m den Kostümen.
Phantastisch quirlte die sonst so ruhige
Abendpromenade durcheinander. Die Kinder
liefen und schrien. Polizisten irrten spärlich
und machtlos dazwischen. Die Erwachsenen
standen dicht gedrängt in vielen wie Schnee-
ballen anwachsenden Gruppen um einen Er-
zähler. Worte wogten aus, Gelärm, Ge-
lächter.
Im Stillen, abseits von der aufgeregten
Stadt, setzte ich mich auf eine Bank, schaute
auf den dunkelnden See und war zum ersten-
mal nach langer Zeit wieder vergnügter
Dinge. Ja manchnial überkam mich stoßweise
daS Lachen wieder, das mich im Theater
geschüttelt hatte.
Ach ja, daS war eS, der Mensch vertrug
nicht, besiegt zu sein, auch nicht als Statist.
Sein Ehrgefühl revoltierte, seine Sehnsucht,
im Triumphwagen als Sieger durchs Leben
zu ziehen. Das hatte die armen Teufel, die
geschlagene, gefangene Äthiopier darzustellen
hatten, so ausgebracht, daß ihnen gegenüber
in glänzenden Reihen die lachenden Sieger
standen, Und waren doch dieselben wie sie,
waren doch nicht Ägypter, waren Tessiner,
man hatte mit ihnen Bocca gespielt, manchen
Schoppen Wein getrunken — und jetzt sollten
die andern die Sieger und sie die Besiegten
sein! Das war unerträglich. Da revoltierte
das südliche Blut, bind die Lanze des
Besiegten traf die Nasenspitze des Siegers.
O kleines, lächerliches, rührendes Bild ewiger
Menschendinge!
Stolz
„Möge Ihnen der liebe Gott im kommenden Jahr alles erdenkliche Glück_"
ff)vn gut, meine Herren, wir find auf Wohltaten anderer nicht angewiesen!"
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Die Ägypter eilten ihrem Führer zu Hilfe.
Die Äthiopier, auch nicht faul, versuchten sich
der Waffen der andern zu bemächtigen.
Aus dem anwachsenden Tumult klang daS
Entsetzen des Chors .und der Amneris wie
ein höhnisches Echo: „Ihr Vater — in unfern
Händen!" Mutig mühte sich Ra-dameS, den
Kampf der Sieger and Besiegten zu trennen,
schob seine breite Heldengestalt zwischen sie.
Vergebens. Wer achtete von denen, die um
ihre persönliche Ehre fochten, noch auf seine
Feldherrnembleme.
Das Pferd vor dem zweirädrigen Wagen,
ein sehr frommes Tier, das die Musik
still geduldet hatte, konnte den Kampf nicht
vertragen, es mischte sich in den Streit,
schnaubte, scheute, ging durch. Der Wagen
ffel um, der König wurde von einem Huf-
schlag getroffen. Aida floh Arm in Arm mit
ihrer Feind-in Amneris. AmonaSro, statt mit
Melancholie zu singen: „Ich Hab gekämpft,
wir unterlagen", rannte verzweifelt auf und
ab, hielt sich den Kopf und schrie m die
Kulissen: „Vorhang, Vorhang!"
Die Musiker spielten wie auf einem unter-
gehenden Schiff weiter, als sei nichts ge-
schehen, aber die Instrumente gerieten immer
-mehr auseinander, der Kapellmeister taktierte
wie eine an allen Schnüren bewegte Ma-
rionette, in der Leidenschaft warf er sein
Pult um. DaS Publikum, das ohnehin schon
von der Empörung zum Lachen übergegangen
war, applaudierte nun stürmisch ironischen
Beifall. Der Tumult auf der Bühne wuchs,
dicke Staubwolken erhoben sich bereits über
dem kämpfenden Getümmel. Endlich fiel der
Vorhang. Mitten drin wurde eine durch-
dringende Stimme hörbar, wahrscheinlich ge-
hörte sie dem, der die erste Lanze gezückt
hatte: „Ich werd euch geben, uns ,besiegte
Feiglinge' zu schimpfen."
Durch diesen Helden am Unrechten Platz
war die Opernaufführung unmöglich ge-
worden. Alles strömte lachend, wie nach
einer großen Volksbelustigung, ms Freie.
In den abendlichen Straßen wurden bereits
von nicht Dabeigewesenen die wildesten Ge-
rüchte kolportiert und geglaubt. Radames
habe ein Eifersuchtsattentat auf Aida be-
gangen und ihr die Nase abgebissen — ein
Amerikaner in einer Loge sei wahnsinnig ge-
worden und habe geschossen — Bolschewiki
hätten auf der Bühne die Internationale
angestimmt und seien von Faschisten an-
gegriffen worden. Andere, die näher den
Ereignissen lebten, erzählten wieder, der Streit
hätte schon vor Beginn der Szene angehoben,
weil schon da sich die Darsteller der sieg-
reichen Truppen über die Besiegten und zu-
dem noch Gefangenen lustig gemacht hätten.
DaS Aufgehen des Vorhangs hätte den Streit
scheinbar beendet, aber in Wirklichkeit sei er
weiter gegangen, bis es zum Kampf der Ver-
höhnten gegen >ihre blnterdrücker gekommen
sei. Strenge Untersuchung sei bereits ein-
H. Marxen
Philosophie nach der Silvesterfeier
„Wenn sich daS Glück so pünktlich an Ter-
mine binden würde, wie der Ncensch an den
Sylvesterpunsch, könnte man noch beruhig-
ter ins neue Jahr blicken!"
geleitet. Zwölf Personen seien verhaftet und
abgesührt worden. Noch m den Kostümen.
Phantastisch quirlte die sonst so ruhige
Abendpromenade durcheinander. Die Kinder
liefen und schrien. Polizisten irrten spärlich
und machtlos dazwischen. Die Erwachsenen
standen dicht gedrängt in vielen wie Schnee-
ballen anwachsenden Gruppen um einen Er-
zähler. Worte wogten aus, Gelärm, Ge-
lächter.
Im Stillen, abseits von der aufgeregten
Stadt, setzte ich mich auf eine Bank, schaute
auf den dunkelnden See und war zum ersten-
mal nach langer Zeit wieder vergnügter
Dinge. Ja manchnial überkam mich stoßweise
daS Lachen wieder, das mich im Theater
geschüttelt hatte.
Ach ja, daS war eS, der Mensch vertrug
nicht, besiegt zu sein, auch nicht als Statist.
Sein Ehrgefühl revoltierte, seine Sehnsucht,
im Triumphwagen als Sieger durchs Leben
zu ziehen. Das hatte die armen Teufel, die
geschlagene, gefangene Äthiopier darzustellen
hatten, so ausgebracht, daß ihnen gegenüber
in glänzenden Reihen die lachenden Sieger
standen, Und waren doch dieselben wie sie,
waren doch nicht Ägypter, waren Tessiner,
man hatte mit ihnen Bocca gespielt, manchen
Schoppen Wein getrunken — und jetzt sollten
die andern die Sieger und sie die Besiegten
sein! Das war unerträglich. Da revoltierte
das südliche Blut, bind die Lanze des
Besiegten traf die Nasenspitze des Siegers.
O kleines, lächerliches, rührendes Bild ewiger
Menschendinge!
Stolz
„Möge Ihnen der liebe Gott im kommenden Jahr alles erdenkliche Glück_"
ff)vn gut, meine Herren, wir find auf Wohltaten anderer nicht angewiesen!"
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