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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 35.1930, (Nr. 1-52)

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Nr. 15 (Einkaufen – verkaufen – und nicht verzweifeln)
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https://doi.org/10.11588/diglit.6762#0227
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MENSCH IM KAUFHAUS

Noch immer ist der Fall Daltin Hartig
ungeklärt. Noch immer ist es nicht gelungen,
Licht in dieses geheimnisvolle Dunkel zu
bringen, so sehr auch die tüchtigsten Krimina-
listen um die Lösung des Rätsels sich be-
mühten. Daltin Hartig ist und bleibt ver-
schwunden. Wenn wir dem Ergebnis der bis-
herigen Ermittlungen trauen dürsen, so wurde
er ein Opfer des ins Gigantische gewachsenen
modernen Kaufhauses, ein Opser ferner jener
wahrhaft teuflischen neuen Erfindung, die
man gemeinhin Dienst am Kunden heißt, ein
Opfer auch — wir wollen eS nicht im minde-
sten beschönigen — seiner weichen und nach-
giebigen Gemütsart. Aber wir wollen niemand
anklagen oder verurteilen; -denn nicht zu
richten, sondern zu berichten sind wir da; wir
wollen vielmehr sachlich und mit der Gewissen-
haftigkeit, die dem Chronisten so wohl ansteht,
die Ereignisse jenes sechsten März, soweit sie
bekannt oder durch den Scharfsinn der Polizei
mit zwingender Logik rekonstruiert worden
sind, zu schildern suchen.

Daltin Hartig verließ in der elften Dor-
mittagsstunde des sechsten März seine be-
schlagnahmefreie, in einer ruhigen Straße des
vorderen Westens gelegene Wohnung, um
seinen alltäglichen Spaziergang zu absolvieren
und bei dieser Gelegenheit im Kaufhaus des
Zentrums ein Päckchen einer bestimmten, nur

VON HANS SEIFFERT

dort erhältlichen Sorte Grammophonnadeln zu
erstehen. Denn, nebenbei bemerkt: er liebte die
Musik über alles. Er schritt durch menschen-
erfüllte Straßen; er entging mit wachen
Sinnen und dem für ein solches Vorhaben
unerläßlichen Ouantum Glück allen Tücken
des Verkehrs und der Verkehrsregelung, wenn
er Straßen überguerte; und endlich stand cr


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icnisniadcnen

VON THEODOR RIEGLE R

Sie hat ein etwas leidendes Gesicht,

Ihr Tag besteht aus Jungsein und Verkaufen,
Gewellte Haare, die sich nie zerraufen,

Durch steile Schächte fällt das Oberlicht.

Sie ist gewöhnlich tadellos gebaut
blnd muß sehr oft auf hohe Leitern steigen,
Ilm ihre Beine, ihren Wuchs zu zeigen,
Wenn sich die Menge unten gierig staut.

Die Hände wühlen sachlich in den Stosten,
Ihr Mund spricht immer nur dieselben Worte:
„Ich garantiere Ihnen beste Sorte"
blnd jeder wird vom gleichen Blick getrosten.

vor der riesigen Drehtür des KDZ. Ver-
trauensvoll überließ er sich ihrem rhythmisch
kreisenden Schwung und betrat die weiten
Räume des Kaufhauses.

blnd nun kommt das Entscheidende: in ihm
vollzieht sich jetzt eine Wandlung, die jeden
unbefangenen Beobachter überaus nachdenk-
lich stimmen muß. Trug nämlich Daltin
Hartings Tun an diesem Vormittag bisher
durchaus den Charakter zweckhafter Bestimmt-
heit, so nimmt es jetzt völlig andere Formen
an; ja, man kann sich sogar des Eindrucks
nicht erwehren, als ob das Gesetz, wonach
Daltin Hartig zu Hause angetreten (Gram-
mophonnadeln kaufen! lautete es), beim Be-
treten des KDZ. sogleich außer Kraft gesetzt
worden sei.

Ob hier ein seltsames atmosphärisches
Phänomen, irgendein geheimnisvolles Od- oder
Fluidum wirksam wurde, mag dahingestellt
bleiben; uns interessiert nur die Tatsache, daß
Valtin Hartig, statt unverzüglich das fünfte
Obergeschoß aufzusuchen und dort in der Ab-
teilung für mechanische Musikapparate seinen
geringfügigen Einkauf zu tätigen, vielmehr
einen ziellosen Gang durch sämtliche siebzehn
Stockwerke des riesigen Kaufhauses begann.
Sie weoden erstaunt fragen, wieso es möglich
war, den Weg eines einzelnen, durch keinerlei
äußere Merkmale sich auszeichnenden Be-
Register
Kurt Werth: Im Warenhaus
Hans Seiffert: Mensch im Kaufhaus
Theodor Riegler: Warenhausmädchen
 
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